Hallo Claudia,
bis auf ein paar Kleinigkeiten lese ich den Brief genau so wie du.
Hier meine Lesung:
Durchlauchtigster Herzog,
Gnädigster Herr.
Ewer Herzogl.[iche] Durchl.[aucht] halten mir zu Gnaden,
daß HöchstDeroselben in unterthänigster Devo-
tion hiermit anerinnere, was Gestalt der große
Gott vor etliche zwantzig Jahren durch seine
unermeßliche Gnade in meinen blinden Ju-
denthum mir ein Licht aufgehen laßen, und
mich dahin gebracht, daß ich zum Erkentniß
der Irrthümer gekommen, und von dem alhir
gewesenen Pastore Herrn Nitschio, nach vor-
gängiger treufleißiger Information [=Unterricht], durch
das Bad der Wiedergeburth in die Zahl
der rechtgläubigen Christen aufgenommen bin.
Wie nun nach meiner Bekehrung mir
nichts mehr angelegen, alß daß auch mei-
ne beyde im Irrthum erzeugte Söhne die
Warheit erkennen möchten; So hat der liebe
Gott auch mein hertzliches Flehen nicht ohner-
hört, sondern es dahin gedeyen laßen, daß
sie in Ewer Herzogl. Durchl. Stadt und Fe-
stung Braunschweig getauffet worden, der eine
auch in festem Glauben an seinen Heyland seel.[ig]
verstorben, der andere aber, August Anthon,
dem Studiren sich gewidmet, auch im Studio
theologico albereit gute profectus [=Fortschritte] gemachet.
Nachdem aber Durchlauchtigster Herzog, Gnä-
digster Herr! mir das Vermögen fehlet, Ihme
dazu die behörige Mittel zu suppeditiren [=als Unterstützung zu gewähren],
solchemnach ich nicht unbillig um hinlängliche
Subsidia mich beworben, folglich bey denen
Herren Gebrüdern von Strombeek alhir in
Braunschweig und deren Frau Schwester um
das von Ihnen distribuirende [=zu vergebende] Stipendium ge-
ziemende Ansuchung gethan, daßelbe von Ihnen
mir auch versprochen worden; So habe mich
dann darauf verlaßen, und innzwischen eine
Jahrs:portion [=einen Betrag in Höhe der Jahresrate] anderweit aufgenommen, alß
ich aber nun auf die versprochene Zeit in
die Hebung zu treten gedenke [=das Stipendium ausbezahlt bekommen will], so wird ab
Seiten des einen Herrn von Strombeek mir des-
halb Wiederspruch gemacht, daß mein Sohn kein Lan-
des Kind, in der Fundation [=Stiftungsurkunde] aber stünde, daß das
Stipendium an Niemand anders, als Landes:Kinder
gegeben werden solte.
Zu Ewer Herzogl. Durchl. muß also bey diesen Um-
ständen meine unterthänigste Zuflucht nehmen, und
weil ich nicht zweifle, daß Höchstdieselbe in Hohen
Gnaden erkennen [=entscheiden] werden, daß dieser mein Sohn, da
er todt in Irrthum und Sünden anhero gekommen,
und alhier durch die Heilige Tauffe das Geistliche
Leben, so aus Gott ist, erlanget hat, als ein wirk-
lich alhir gebohrner zu consideriren [=anzusehen] sey;
Alß [=Also] ergehet an Ewer Herzogl. Durchl. hiermit
mein unterthänigstes demühtigstes Bitten, Sie ge-
ruhen, meinem Sohne die Hohe Gnade zu erweißen,
und aus Landesherrl.[icher] Macht denselben zu naturali-
siren, und als einen Landes:Unterthan zu decla-
riren, damit also der diesfalß gemachte Ein-
wurff /: welcher zwar ohnedem schon durch
verschiedene praeiudicia gehoben [=vorgängige Gerichtsentscheidungen beseitigt] aus dem Wege
geräumet, und mein Sohn solcher Gestalt des
Strombeekschen Stipendii theilhafftig werden, und
diese Ihme daßelbe ohnweigerlich folgen [=auszahlen] laßen
mögen. Ich getröste mich gnädigster Erhörung,
in tieffster Demuht ersterbend,
Ewer Herzogl. Durchl.
unterthänigster Knecht
Carl Pauli.
Braunschweig den 1.
Octobr.[is] 1729.
„Ewer“ ist die altertümliche Schreibung von „Euer“, die, abgekürzt als „Ew.“, in der Anrede von Fürstlichkeiten noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet wurde. Die Zeichen /: entsprechen unseren modernen Klammern ( ).
Übrigens ein hochinteressantes Dokument. Die Argumentation, der anderswo geborene Sohn sei ja eigentlich erst durch die in Braunschweig erfolgte Taufe wirklich geboren worden und deshalb als Landeskind zu betrachten, ist wirklich originell. Weiß man denn wenigstens, ob Carl Pauli mit seinem Gesuch Erfolg hatte?
Freundlichen Gruß
Klaus (Bailly)