Wie öffentliche Genealogie-Daten der Wissenschaft helfen: NSDAP-Stimmenanteile

Originally published at: Wie öffentliche Genealogie-Daten der Wissenschaft helfen: NSDAP-Stimmenanteile • Verein für Computergenealogie e.V. (CompGen)

Etliche in der Leserschaft dieses Blogs werden viel Zeit und Mühe in die Deutschen Verlustlisten der Jahre 1914–1919 investiert haben. Hunderte Freiwillige haben über Jahre hinweg zirka 8,5 Millionen Datensätze erfasst und abgetippt. Diese Daten sind jedoch nicht nur für die (eigene) genealogische Forschung interessant. Sie helfen sogar der politikwissenschaftlichen Erforschung von Ursachen des Nationalismus im 19. Jahrhundert.

Die kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift „American Political Science Review“ veröffentlichte Studie „War and Nationalism: How WW1 Battle Deaths Fueled Civilians’ Support for the Nazi Party“ (DOI: 10.1017/S000305542300014X) ist so ein Beispiel. Die Studie widmet sich der Entstehung von Nationalismus. Das Forschungsteam um Prof. Alexander De Juan von der Uni Osnabrück fragt ganz konkret, ob Regionen, die im Ersten Weltkrieg eine höhere Verlustrate zu beklagen hatten, später eher für die nationalistischen Parteien NSDAP und DNVP gestimmt haben.

Die Auswirkungen von Kriegen auf die Gesellschaft sind gravierend, lang anhaltend und reichen oft über ihre unmittelbaren Konsequenzen hinaus. Ein besonders interessantes Phänomen ist der Zusammenhang zwischen Kriegsverlusten und nationalistischem Wahlverhalten. Diese Verbindung eines vorgegangenen Krieges und politischer Präferenz mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen. Die Autoren führen aus, dass das große Ausmaß an Kriegsopfern ein psychologisches Trauma bei der Zivilbevölkerung verursachte, das zu einer Änderung ihrer Einstellung führte. Infolgedessen stieg die Unterstützung für extremistische politische Bewegungen und der Nationalismus nahm zu.

Verwendung von Daten des Vereins für Computergenealogie

Die zentrale Messgröße ist die Verlustrate im Ersten Weltkrieg für eine Gemeinde. Dies ist der Anteil aller Kriegstoten an allen Verlusten (Gefallen oder Verwundet) für diese Gemeinde. Die Forscher haben diese anhand der Deutschen Verlustlisten ermittelt. Die Regierungen der vier deutschen Königreiche im Deutschen Reich (Preußen, Sachsen, Bayern, Württemberg) erstellten diese Listen während und nach dem Krieg. Der für die Studie verwendete Datensatz enthält Informationen über die Geburtsorte für 7,5 Millionen Soldaten und Angaben zum Verluststatus (verwundet oder gefallen) für etwa 5,5 Millionen Soldaten. Die Geburtsorte wurden wegen mangelnder Qualität nicht über das GOV geo-koodiert, sondern manuell über Google ermittelt. Obwohl der Verluststatus heutzutage flächendeckend zu Verfügung steht, war das für die Autoren nicht der Fall: Sie haben für fast alle Einträge den Status selbst mit Hilfe von kraken ermittelt. Um mögliche mehrere Einträgen derselben Personen zusammenzuführen wurde auch maschinelles Lernen bemüht.

Außerdem verwendet die Studie Stimmenanteile während der Reichswahlen zwischen 1920 und 1933 für die rechtsnationalistischen Parteien NSDAP und DNVP. Dabei wurde der sich ändernden Zuschnitte der Kreise und Gemeinden in den 1920er Jahren Rechnung getragen.

Die Autoren stellen fest, dass die Wahlunterstützung für rechtsnationalistische Parteien in Landkreisen mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Kriegsverlusten um 2,6 Prozentpunkte höher war als woanders. Sie haben für zahlreiche kreis-bezogene Charakteristika kontrolliert, damit nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden: Anteil Protestanten, Kriminalitätsrate, Grenzland, Anteil Bauern, etc. Am wichtigsten jedoch ist, dass nur Kreise innerhalb desselben Wehrbezirks miteinander verglichen wurden.

Durch zusätzliche Analysen können sie ausschließen, dass dieser Effekt durch Kriegsveteranen getrieben ist: Das bedeutet, dass es Zivilisten sind, die den Krieg nicht aus eigener Anschauung kennen, aber Gefallene in ihrem sozialen Umfeld zu beklagen hatten, tendenziell rechtsnational gestimmt haben. Psychologische Analysen anderer Autoren belegen, dass der Tod von Familienmitgliedern, Freunden und Gemeindemitgliedern im Kampf die Akzeptanz der eigenen Gruppe und die Feindseligkeit gegenüber anderen Gruppen verstärken kann.

Außerdem können die Autoren umgekehrte Kausalität ausschließen, wonach Männer aus nationalistisch gestimmten Gegenden häufiger in Einheiten mit vielen Verlusten gekämpft haben. Auch sind die Stimmenanteile für die rechtsnationalen Parteien nicht höher in Gebieten mit bestehenden Traditionen des kollektiven Kriegsgedenkens.

Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Studie

Insgesamt, so schließen die Autoren, ist der Effekt also getrieben durch Zivilisten. Die Studie leistet damit drei wesentliche Beiträge.

  1. trägt sie zur bestehenden Forschung über die Ursprünge des Nationalismus bei, indem sie zeigt, wie der Krieg den rechtsgerichteten Nationalismus in Deutschland beeinflusst hat: Kriegsverluste können indirekt psychologische Prozesse auslösen, die die Identifikation mit der Nation erhöhen und die Unterstützung für nationalistische Parteien stärkt
  2. belegt sie den signifikanten Einfluss der geografischen Verteilung der Kriegstoten auf die Stimmabgabe für die NSDAP. In der wissenschaftlichen Literatur wurde bisher der Zusammenhang zwischen Kriegstoten und Wahlverhalten nicht untersucht. Stattdessen standen sozioökonomischen Faktoren der Wähler, oder das Verhalten der Parteien (Propaganda, Einschüchterung) im Vordergrund.
  3. trägt sie zur Erforschung der Auswirkungen von Kriegen auf politisches Verhalten bei, indem sie zeigt, dass die Nähe zu Kriegsopfern Auswirkungen auf politische Einstellungen weit über das Kriegsende hinaus haben kann. Wie das möglich ist? Insbesondere durch die Förderung einer spezifische Form von prosozialem Verhalten – dem Nationalismus – in der Gruppe.

Die Autoren der Studie konnten diese Erkenntnisse nur gewinnen, weil sie auf die umfangreiche Datenbank des Vereins für Computergenealogie (CompGen) zugreifen konnten. Die Freigabe und das Teilen von genealogischen Daten hilft also sogar bei Fragestellungen, die gar nichts mit der Genealogie zu tun haben!

2 „Gefällt mir“

In der Mitgliederliste hat sich hierzu eine lebhafte Diskussion entsponnen. Ich habe dort geschrieben:

Hallo zusammen,

wir können Michael Rose und Marina Schwab sehr dankbar sein für die knappe Zusammenfassung der Studie. Dass diese nicht ganz leicht zu verstehen ist, ist kein Wunder. Es geht um eine ziemlich komplexe Sache, der mit mehreren methodischen Ansätzen und unter Berücksichtigung von mehreren Einflussgrößen zuleibegerückt wird, mit Methoden, die zu lernen Zeit erfordert. Die Einflussgröße „Verlustrate“ - salopper gesagt: Tödlichkeitsrate, also der Anteil der Toten an allen in den Verlustlisten auftauchenden Fällen - erklärt dabei auch nur einen kleinen Teil der rechten und rechtsextremen Stimmenanteile, zusammen so um die zweieinhalb Stimmenprozent. Andere Faktoren, etwa Protestantismus, hatten stärkere Effekte, aber auch zweieinhalb Prozent sind nicht nichts. Die Frage, ob es zwischen der „Tödlichkeitsrate“ und späterem Nationalismus auch andere Verbindungen, evt. auch eine umgedrehte Kausalität gibt, ist natürlich hochinteressant und wird im Artikel auch ausführlich diskutiert und getestet - ich glaube, dass diese Frage auch noch nicht ganz endgültig geklärt ist.

In einer Zeit, in der Krieg zwischen großen Armeen uns wieder nähergerückt ist, trägt es zum Gedenken an Kriegsopfer auch bei, wissenschaftlich zu verstehen, was Krieg bedeutet und bewirkt. Daher passen beide Seiten schon gut zusammen: Ein Erfassungsprojekt, das die einzelnen Menschen sichtbar gemacht hat, und eine wissenschaftliche Studie, die nach den sozialen Nachwirkungen von Verlust und Tod fragt.

Viele Grüße

Georg (Fertig)