Was Online-Ortsfamilienbücher zur Geschichte der Verwandtschaft beitragen

Originally published at: Was Online-Ortsfamilienbücher zur Geschichte der Verwandtschaft beitragen • Verein für Computergenealogie e.V. (CompGen)

Ein zentrales Thema der von David Sabean und anderen betriebenen neueren Geschichte der Verwandtschaft ist die Frage nach Heiraten zwischen Menschen, die bereits durch Heirats- oder Blutsverwandtschaft verbunden waren. Der Beitrag nutzt einige besonders gut dokumentierte Online-Ortsfamilienbücher des Vereins für Computergenealogie, um nach der räumlichen und zeitlichen Verbreitung zweier Typen von Verwandtenheirat zu fragen: der Heirat mit der Schwester der verstorbenen Ehefrau und der Heirat zweier Geschwisterpaare. Es zeigt sich, dass die von Sabean für das württembergische Neckarhausen beobachteten Muster sich in teilweise noch deutlicher Form in anderen deutschen Regionen beobachten lassen.

Einleitung

Im vorigen Beitrag habe ich über das große Inzest-Buch von David Sabean berichtet. Dabei habe ich auch auf seine Studien zum württembergischen Flecken Neckarhausen verwiesen. Hier soll nun aufgrund einer großen, von Genealogen erarbeiteten Datengrundlage danach gefragt werden, ob die empirischen Befunde Sabeans auf andere Orte und Regionen übertragbar sind. Im zweiten Neckarhausen-Buch, Kinship in Neckarhausen (1998), macht Sabean die zentrale Beobachtung, dass bestimmte Arten von Verwandtenheiraten im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts immer häufiger werden. Das ist überraschend, als diese Zeit meist mit Begriffen wie „Modernisierung“ und „Durchsetzung von Marktbeziehungen“, sogar „Anonymisierung“ beschrieben wird und damit oft die Vorstellung verbunden ist, private Beziehungen würden immer weniger wichtig. Wieso wurden sie dann immer beliebter?

Sabean geht es nicht nur um Heiraten, sondern um ganz verschiedene Arten des Zusammenwirkens mit Verwandten: Landverkäufe, Übernahme von Verantwortung vor Gericht, Patenschaften, Kredit und mehr. Sein Befund zu den Heiraten hat zwei Seiten. Erstens kommen Verwandtenheiraten zunehmend vor, und zweitens verändert sich ihre Struktur. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte etwa ein Viertel der Ehen eine vorherige genealogische Verbindung, im mittleren 19. Jahrhundert die Hälfte. Blutsverwandte kommen anfangs gar nicht vor, zuletzt machen sie ein Drittel aus, darunter nicht selten Cousins und Cousinen (überwiegend 2. oder 3. Grades). Die Paare in der frühesten Gruppe sind in der Regel über Schwägerschaft verbunden, in anderen Worten: es geht um Geschwister, die jeweils beide ihre Partner in derselben Herkunftsfamilie finden. Die Ehefrauen zweier Brüder sind z.B. Cousinen, sie sind Tante und Nichte oder sie sind ihrerseits verschwägert oder „verschwippschwägert“. Im mittleren 19. Jahrhundert dagegen, als Heiraten zwischen Cousins und Cousinen 2. Grades verbreitet waren, verliefen die Beziehungen nicht über Geschwisterpaare, sondern über Eltern und Großeltern (besonders Mütter und Großmütter), die bereits in einer vorhandenen generationenübergreifenden Beziehung standen.

Sabean meint, dass diese Befunde kein Zufall sind, und er hat sie schon im zweiten Neckarhausen-Buch genutzt, um zu einer gesamteuropäischen Neuinterpretation der Geschichte sozialer Klassen, sozialer Ungleichheit und sozialer Beziehungen zu kommen. Ähnlich wie der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr oder auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu (beide wie Sabean in den 1930ern geboren) entfaltet er eine Deutung der modernen Klassengesellschaft, die nicht die „Klasse an sich“, sondern die „Klasse für sich“ betont. Das „für sich“, das Füreinander in den sozialen Beziehungen ist nicht in der materiellen Gleichförmigkeit von Lebensverhältnissen begründet, sondern in den Formen des Eingehens von Verbindungen. Als ich Sabeans Arbeiten und dann auch ihn selbst in den 1990er Jahren kennengelernt habe, war ich überzeugt, dass dies der bedeutendste Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte war, den ich kannte. Er schien mir wichtiger noch als die anderen am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte entstandenen alltags- und mikrohistorischen Studien, wichtiger zumal als allerlei Gesamtüberblicke und quellenfernen Theorieentwürfe, mit denen man sich als junger Doktorand und Postdoc ansonsten herumschlagen musste. Andererseits mochte ich die Behauptung, das sei alles kein Zufall, nicht ungetestet stehenlassen. In einem unveröffentlicht gebliebenen Konferenzpapier (2004) entwickelte ich eine Methode, um die Häufigkeiten von Verwandtenehen mit der Häufigkeit zu vergleichen, mit der sie bei zufälliger Verteilung zu erwarten wären, und behauptete: „Kinship is both a strategy and a random process“. Sabean glaubt das bis heute nicht.

Datenauswahl

Ein möglicher Weg, das Phänomen zu testen, besteht darin, für die jeweils in einem Ort ungefähr gleichzeitig heiratenden Männer und Frauen Zufallspaarungen zusammenzustellen und deren Verteilung näher zu ermitteln. Dies möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vorführen. Ein anderer Weg besteht darin, die Datengrundlage zu erweitern. Und dafür ist derjenige Teil der genealogischen Forschung besonders geeignet, der über die bloße Ahnenforschung, also das Anlegen von „Stammbäumen“ mit den jeweils eigenen Vorfahren und allenfalls deren Nachkommen, hinausgeht und komplette Orte oder Regionen untersucht. Ortsfamilienbücher (OFBs) sind schon seit Jahrzehnten diejenige Form genealogischer Forschung, die in der Geschichtswissenschaft Aufmerksamkeit und Anerkennung findet. Ich habe also eine Reihe der bei den Online-OFBs erschienenen Datenbestände ausgewählt und analysiert. Auswahlkriterien waren:

  • Die Autoren hatten eine CC-BY-Lizenz vergeben (oder mir schon vorher die Daten zur Verfügung gestellt). Streng genommen ist für wissenschaftliche statistische Auswertungen genealogischer Online-Daten keine Lizenz erforderlich, das Urheberrecht ermöglicht das auch sonst (§60d UrhG). Aber bei denjenigen OFB-Autoren, die in letzter Zeit CC-BY-Lizenzen vergeben haben, kann man auch sicher sein, dass sie mit solchen Auswertungen einverstanden sind, und wenn ich für eine größere Studie Auskünfte von ihnen brauche, sind sie wahrscheinlich auch ansprechbar.
  • Die Startseiten der Online-OFBs enthalten hinreichende Informationen darüber, was das jeweilige OFB überhaupt enthält. Das verlangt also eine Benennung der enthaltenen Pfarreien oder Kirchengemeinden, im besten Fall ein Verzeichnis der Quellen, und klare Aussagen über den ausgewerteten Zeitraum. Leider haben wir keine eigene Datenbank über die Zuordnung von OFBs zu einzelnen Kirchenbüchern (als Hauptquellen), den GOV-Kennungen der Kirchengemeinden, den dazugehörigen Digitalisaten bei Archion, Matricula oder FamilySearch, vorhandenen Verkartungen und Indexierungen. Dennoch sind die Online-OFBs um Längen transparenter organisiert als etwa unser GEDBAS-System oder gar die verschiedenen Online-Stammbäume anderer Anbieter.
  • Ich habe versucht, sinnvolle regionale und konfessionelle Schwerpunkte zu bilden. Große Datenbestände sind dabei besser als kleine, weil in großen, mehr als einen Ort umspannenden OFBs weniger Information über Abwanderung und Verwandtschaftsbeziehungen in Nachbarorte verlorengeht. In Württemberg ist das noch nicht möglich, aber vielleicht lässt sich dort der Datenbestand auch noch erweitern.

Für den Moment arbeite ich mit folgenden Online-OFBs:

Mit Württemberg, Löhne und Diepholz sind drei lutherische Regionen beteiligt, mit Wittgenstein eine größere reformierte, mit Ubstadt (Baden) und dem Südlichen Hochwald (Saarland) ist auch das katholische Südwestdeutschland einbezogen. Damit hat sich zunächst eine Süd-Nord-Schiene im ländlichen westlichen Deutschland herausgebildet, wobei ich ungern stehenbleiben würde (größere Städte, mehr katholische Regionen und das östliche Deutschland fehlen). Für das Ziel, die Übertragbarkeit der lokalen Ergebnisse David Sabeans auf größere Räume zu testen, ist dies aber ein guter Anfang. Dies allein ist auch schon ein deutlich größerer Datensatz als alle bisherigen historisch-demographischen Studien, die seit den 1970er Jahren durch die Auswertung von OFBs entstanden sind.

Methoden

Für die Arbeit an der Studie hat Herbert Juling mir aus der Online-OFB-Datenbank Datenauszüge zur Verfügung gestellt – also nicht die Original-GEDCOM-Daten, sondern Auszüge aus den bereits aufbereiteten Personen- und Familientabellen, ohne die Personennamen, aber mit den Lebensdaten und Berufsangaben und vor allem mit den Personen- und Familienkennungen, aus denen sich das Verwandtschaftsnetz ergibt. Damit lassen sich Verwandtenehen durch recht einfache Abfragen ermitteln. Nehmen wir etwas das wichtige und im 18. Jahrhundert hoch umstrittene Beispiel der Eheschließung mit der Schwester der verstorbenen Ehefrau (in ethnologischer Schreibweise: „WZ“, wife’s sister). 1789 wurde dies in Württemberg erstmals dispensierbar (konnte also im Einzelfall erlaubt werden). In Neckarhausen kommt diese Form dann ab den 1820er häufiger vor. Die Struktur ist sehr einfach, als ethnologisches Verwandtschaftsdiagramm, wie Sabean es nutzt, sieht sie so aus (S. 277):

Wer Computergenealogie betreibt, ist es gewohnt, Verwandtschaft als formale Datenstruktur zu modellieren. Das Beispiel der WZ, der Wife’s Sister oder Schwester der Ehefrau, ist ein einfacher Fall. Ich nutze SQL und als Hilfsmittel dafür den Microsoft Access Query Designer. Hier ist die Struktur ebenfalls übersichtlich. Es geht um eine Familie mit Mann und Frau, und für den Mann gibt es eine zweite Familie, aber mit einer anderen Frau und einem späteren Jahr. Für beide Frauen gilt dabei: Sie stammen aus derselben Familie, in der Personentabelle ist ihnen also jeweils dieselbe (Herkunfts‑)Familienkennung zugewiesen.

Ich verzichte darauf, den entsprechenden SQL-Code hier wiederzugeben, er lautet in verschiedenen SQL-Dialekten auch unterschiedlich. Einfach heruntertippen können SQL aber nur die wenigsten, und immer wenn ich in MySQL oder SQLite oder auch in SAS PROC SQL arbeite, vermisse ich doch sehr den guten alten Microsoft Access Query Designer.

Ergebnisse

Tatsächlich finde ich mithilfe solcher Abfragen in den vier württembergischen Orten ein ganz ähnliches Muster wie Sabean in Neckarhausen: Heiraten mit der Schwägerin setzten 1814 ein, mit dem Oberesslinger Bürger, Schneider und Weingärtner Wilhelm Ludwig Maul, dessen Frau Rosina kurz nach dem Tod ihres neugeborenen dritten Kinds verstorben war und ihm zwei überlebende Kinder hinterlassen hatte. Ihre Schwester Elisabetha nahm ihre Rolle ein. Erst in den 1840er Jahren häuften sich solche Fälle.

Weiten wir den Blick auf unseren gesamten Datenbestand aus, dann sehen wir: Weder die Fälle in Neckarhausen noch die in unserem etwas größeren württembergischen Sample sind ungewöhnlich. Die Heirat mit der Schwägerin kam in anderen Teilen Deutschlands sogar schon früher und häufiger vor:

Sabean hat also nicht etwa aus ein paar Einzelfällen in seinem „Dorf“ (eigentlich Flecken) eine größere These herbeispekuliert, sondern er hat in Neckarhausen etwas entdeckt, das größer ist als Neckarhausen. Eine ganze Reihe von inhaltlichen Fragen bleibt aber offen. Warum wurde in Ostwestfalen – als dies noch klar illegal war – schon sehr früh vereinzelt und ähnlich wie im norddeutschen Diepholz dann später sogar recht häufig die Schwägerin geheiratet? Warum kamen auch in katholischen Gebieten trotz kirchenrechtlich weiterbestehender Verbote unter preußischer und badischer Herrschaft weitere Fälle vor? Vor allem: Was hatte es mit der starken und schon ab den 1750ern einsetzenden Konjunktur von Schwägerinnenheiraten im calvinistisch geprägten Wittgenstein auf sich? Wer solche Fragen klären will, muss sowohl das Kirchenrecht als auch das ab dem mittleren 18. Jahrhundert in Bewegung geratene staatliche Eherecht, sowohl die ökonomischen Grundlagen der betroffenen Haushalte als auch die jeweilige Familienkonstellation mit kleinen oder größeren Kindern genauer anschauen.

Ich überspringe die Frage nach den Cousinenheiraten, zu denen an anderer Stelle mehr zu sagen sein wird, und führe dieselben Schritte wie eben noch an einem anderen strukturellen Muster vor, nämlich der Heirat von zwei Geschwisterpaaren. Im frühen 18. Jahrhundert kam diese, obwohl legal, in Neckarhausen nicht vor (wohl aber die Heirat von zwei Brüdern mit zwei Cousinen oder ähnliche Muster); ab dem mittleren wurde es häufiger.

Die Daten aus den Online-OFBs zeigen: Auch hier hat Sabean in Neckarhausen etwas entdeckt, das andernorts noch viel größeres Gewicht hat. In der Grafschaft Diepholz ist es besonders auffällig. Hängt es mit den dort besonders großen Bauernhöfen zusammen? Was sagt es uns über die Ausgestaltung von Geschwisterbeziehungen? Hat es eher mit der Konkurrenz unter erbenden und nicht erbenden Brüdern zu tun oder eher mit der Verantwortung für die Ausstattung der Schwestern?

Der erste Fall dieser Art war 1676 die Heirat des 27jährigen Detmer Finke, wie sein gleichnamiger Vater Halbmeier auf Wedehorn 19, mit Hiske Niehaus, der Schwägerin seines Bruders Hinrich (man kann auch sagen: Schwester seiner Schwägerin, in ethnologischer Notation „BWZ“, brother’s wife’s sister). Hilborg Niehaus und Hinrich Finke genannt Niehaus hatten schon 10 Jahre früher geheiratet, er war ebenfalls Halbmeier, aber auf dem Hof Nienhaus 1, den zuvor seine Schwiegereltern, Hilborgs Eltern Margaretha und Harmen bewirtschaftet hatten. Eine mögliche Erklärung wäre, dass solche Heiraten die Auszahlung der wechselseitigen Mitgiften ermöglichen. Aber das scheint hier unplausibel – warum sollte das jetzt, nach 10 Jahren, dringlich geworden sein? Oder hielten sich die Brautleute an Verabredungen, die schon 10 Jahre zuvor ihre Eltern getroffen hatten? Aber hatten Eltern erwachsener Kinder so lange so viel Entscheidungsgewalt über ihre Kinder? Vielleicht spielten auch Herrschaftsrechte der (evangelischen) Bassumer Äbtissin hinein, die bei Hofübernahmen und damit auch Heiraten mitzureden hatte. Aber konnte sie eine konkrete Eheschließung anordnen?

Geld und Macht werden gern als Standarderklärungen für die persönlichen Entscheidungen von Menschen aus der Geschichte gebraucht. Ich halte diese Entscheidungen eher für freiwillig, ob „aus Liebe“ oder nicht, und zugleich sozial bedingt, denn sie ergaben aus bestimmten sozialen Umständen heraus mehr oder weniger Sinn. Möglicherweise ging es einfach um den Wunsch von Detmer und Hiske, ökonomisch auf Augenhöhe zu sein, was in der ländlichen Oberschicht eben die Auswahlmöglichkeiten beengte. Wenn wir tiefer in diese Frage einsteigen wollen, gilt es, die archivische Überlieferung zu Eheverträgen, Eigentum und Erbschaft näher anzuschauen. Aber Datenbestände wie das große, detaillierte und sorgfältig erarbeitete OFB Grafschaft Diepholz (und ebenso die anderen an dieser Stelle ausgewerteten OFBs wie auch das gesamte Online-OFB-Projekt) sind für solche Untersuchungen eine unverzichtbare Grundlage.

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Vielen Dank für diesen spannenden Beitrag.

Ja, das ist ein spannendes Thema, auch ich bedanke mich dafür…

Zur Ergänzung zum Thema Verwandtenehen hier noch dieser Hinweis:

Literaturauswahl
zum Thema „Ahnenverlust“ (Implex)
chronologisch geordnet mit teilweiser Kurzkommentierung
zusammengestellt von Arndt Richter, München

Viele Grüße
Heiko

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Ich habe den auch sehr vermisst, bis ich FlySpeed SQL Query entdeckt habe. Damit kann man SQL Abfragen für alle möglichen Datenbanken genau wie bei MS Access grafisch „basteln“.

Einen sehr großen Datensatz zum katholischen Altbayern (ca 80 k Personen vom 16.Jhdt. bis 1900, dann Cut aus Gründen des Datenschutzes) habe ich in der CompGen-Community auf Zenodo veröffentlicht (1). Die Daten liegen im Gramps XML-Format vor, was aber ohne große Probleme in andere Formate überführt werden kann. Bei Interesse stehe ich gerne für eine Diskussion dazu zur Verfügung.

Lanzinger, M. (2015). Verwaltete Verwandtschaft: Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert. Böhlau Verlag. DOI 10.26530/oapen_574674 zeigt am Beispiel der Diözese Brixen, dass dies offensichtlich sehr stark davon abhing, wie die jeweilige Diözesanverwaltung agierte. Brixen hatte, aus welchen Gründen auch immer, eine recht harte Linie gefahren. Dann wurde nach Napoleon Vorarlberg der Diözese zugeschlagen und dort hatte man das Thema recht entspannt gesehen. Ein Grund könnte dafür gewesen sein, dass Vorarlberg wesentlich mehr protestantische „Konkurrenz“ in der unmittelbaren Umgebung hatte als Brixen, so dass man in Vorarlberg der Drohung „wenn ich keine Genehmigung für die Heirat bekomme, dann gehe ich zur Konkurrenz“ deutlich aufgeschlossener gegenüber stand. Dieser Sichtweise schloss sich dann auch Brixen an, speziell wenn wirtschaftliche Argumente aus der Bürger- und Kaufmannschaft vorgebracht wurden. Als ehemaliger Katholik denkt man sich seinen Teil …

Ich denke, man kann lange über die exakte Definition von „Freiwilligkeit“ im Kontext von sozial bedingten Entscheidungen diskutieren. Ein weites Feld, würde ich sagen …:wink: In der bäuerlichen Gesellschaft des Landgericht Griesbach (heute Landkreis Passau im katholischen Altbayern an der Grenze zu Österreich), über die ich arbeite, sollte man m E eher die Parallele zu den „strategischen Partnerschaften“ der Wirtschaft sehen. Und man sollte nicht aus dem Auge lassen, dass die Brautleute in einem über Generationen aufgebauten Geflecht an gegenseitigen verwandtschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verflechtungen aufwuchsen und handelten (2). In einem solchen Geflecht ist die Frage

[quote=„Georg.Fertig, post:1, topic:825718“]
Aber hatten Eltern erwachsener Kinder so lange so viel Entscheidungsgewalt über ihre Kinder?
[/quote]

m E gar nicht mehr so relevant (auch wenn ich sie mit einem überzeugten Ja beantworten würde). Das große Problem ist natürlich, solche Parameter bei der Wahl des Ehepartners auch sauber nachzuweisen. So etwas wurde nirgends niedergeschrieben, hier kann nur Statistik helfen und Statistik sagt leider nichts über den Einzelfall aus.

(1) Über einen noch wesentlich größeren Datensatz (m W ca 600 k Personen) verfügt die BLF-Bezirksgruppe Niederbayern, aber ich bin bisher auf wenig Bereitschaft gestoßen, den für wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung zu stellen.

(2) Eine altbayerische Bauernweisheit besagt: „Liebe vergeht, Tagwerk besteht“ (mit Tagwerk ist natürlich das altbayerische Flächenmaß (ca 1/3 Hektar) gemeint). In diesem Satz wird m E die Perspektive der „strategischen Partnerschaft“ sehr prägnant zugespitzt.

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Interessantes Thema, das mir beim eigenen Familien-Stammbaum auch schon ein paar Mal auffiel: Entweder Über-Kreuz-Hochzeiten oder eben beim Tod der Frau oder auch des Mannes, dass die Schwester oder der Bruder der nächste Ehepartner war.

Bei der Beobachtung, dass dies vor 1800 nicht oder selten vorkam, wäre ich aber deutlich vorsichtiger: Die formalisierten und damit vollständig tabellarisch erfassten Familien-, Tauf-, Ehe-, Sterbe-Register starten erst um diese Zeit, schließen zwar die damals lebenden Familien ein, also starten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so dass man erst ab diese Jahre von einer vollständigen oder wenigstens repräsentativen Querschnitt in den OFB ausgehen kann. Und davor, also 17. Jahrhundert und früher, ist entweder durch Nicht-Nennung des Geburts-Nachnamens der Ehefrau oder Mutter eine eindeutige Zusammenführung von Personen verschiedener Matrikel-Einträge manchmal nicht oder nur schwer möglich. (Ich habe für einen Ort den Fall, dass derselbe Vorname und Nachname so häufig in verschiedenen Familien vorkommt, dass eine Zusammenführung von Geburts- , Ehe- und Sterbe-Einträgen sowie der Nachkommen-Geburts-Einträge kaum möglich oder nur über dieselben Paten der Kinder möglich war - fehlt dann noch der Geburts-Nachname der Frau in den Einträgen oder wird nur der Vater genannt, hat man so oder so ein Problem.)

Ist evtl. eine Scheinkorrelation, wie Geburtenrate-Storchenpopulation: Wenn die Datengrundlage weniger/unvollständiger ist und nicht alle Beziehungen erfasst werden konnten, dann sinkt automatisch auch das Vorkommen solcher Beziehungen.

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