Suche Krankenakte der Privaten Heil- u. Krankenanstalt Ilten bei Sehnde

Hallo, liebe Hannoveraner,

kann mir vielleicht jemand sagen, wo Krankenunterlagen aus o. g. Anstalt zu finden sind? Vielen Dank für Mithilfe!

Mir liegt die Sterbeurkunde des 35jährigen Hermann Johannes tom Felde vor, der in der Anstalt am 23. Juli 1938 an ‚Schizophrenie und Lungenentzündung‘ gestorben sein soll, einen Tag nach seinem Geburtstag (* 22.07.1903 Geestemünde, später Bremerhaven). In dieser Sache hatte ich Kontakt zur Stadt Sehnde und einer Kulturhistorikerin. Ilten hat offenbar verlegt, aber nicht aktiv medizinisch getötet. Von anderer Seite weiß ich aber, dass im Deutschen Reich schon ab 1934 Tötungen bestimmter Personengruppen vorkamen.

Lungenentzündungen und TBC waren damals keine seltenen Erkrankungen, wurden aber bekanntlich in der Nazizeit auch als Alibi-Diagnosen verwendet. Leider weiß ich über den betreffenden Verwandten nur, dass er vom Jugendalter an als (landwirtschaftlicher) Arbeiter zwischen Königsberg, NRW und dem Norden mobil war, was nicht unbedingt für eine psychische Problematik spricht. Zuletzt war er in seinem Bremerhavener Elternhaus gemeldet.

Da er (wie seine Familie) adventistischen Glaubens war, erscheint eine Verfolgung nicht unwahrscheinlich. Seine Schwester ist laut Sterbebuch Meseritz-Obrawalde 37jährig an ‚Geisteskrankheit, Propf-Schizophrenie und Lungenentzündung‘ gestorben, allerdings erst 1944. Sie war frisch geschieden, hinterließ ein siebenjähriges Kind und lebte in Berlin.

Hallo Nicole,

Ilten. Wahrendorffsche Anstalten war eine private Klinik, die eine hohe Sterberate durch Unterversorgung, d.h Hungerkost hatte. (Quelle:Hamburger-Euthanasie-Opfer).

Mir ist nicht bekannt, das damals 1938 bereits aus dieser Anstalt verlegt wurde, denn die „Euthanasie“ in diesem Gebiet begann meines Wissens erst 1940/41. (siehe Ernst Klee „Euthanasie“ im Dritten Reich.

Für Krankenakten würde ich mich zuerst an diese Klinik wenden, denn sie existiert noch. Frag nach deren Sterbebuch und Aufnahmebuch. Als weitere Möglichkeit sehe ich das zuständige Landesarchiv.
Und lass dir nichts von „Schweigepflicht“ erzählen. Es sind Personen der Zeitgeschichte, daher ist die Erforschung für Angehörige und Historiker nicht an Schweigepflicht gebunden. Solltest du Schwierigkeiten haben, dann sprech noch mal mit dem AK Euthanasie, vielleicht können dort dir noch andere Forscher helfen. Mein Spezialgebiet ist leider das heutige Polen und die pommerschen Anstalten.

Wenn er sterilisiert wurde könnte, wenn sie nicht vernichtet wurde im örtlichen Stadtarchiv (Sterbeort) noch eine Sterilisierungsakte vorhanden sein. Diese wurden aber auch manchmal ans Stadtarchiv abgegeben. Es könnte eine Entmündigungsakte im Wohnort oder im Sterbeort in den dortigen Archiven liegen.

Ich möchte nicht enttäuschen, aber es wurden die meisten Unterlagen vernichtet, also wäre das sehr großes Glück, wenn noch etwas vorhanden ist. Gesundheitsamtsakten wurden mitgeschickt, d. h. Sie liegen nicht im Wohnort des Opfers, wenn dann nur in ganz großen Ausnahmefällen.

Ich hoffe das hilft etwas. Und immer schauen, ob man Literatur / andere Opferbiografien findet, das hilft oft zu verstehen wo man weiter forschen könnte.

Aber 1938 wurde nicht in Tötungsanstalten verlegt, die Person starb wirklich wie in der Urkunde angegeben, die Todesursachen sind natürlich quatsch an einer psychiatrischen Diagnose stirbt man nicht.
Die Vertuschung fing viel später an und die Zusammenlegung von Anstalten fand schon vorher statt - wie bei den pommerschen Anstalten zu sehen aus Kostengründen.
Da es vor dem Krieg war, ist das mit Hungerkost auch noch nicht der Fall. Diese wurde erst nach 1941; nach dem Stopp der T4 Aktion eingeführt. Meines Wissens nach. Um es genau zu sagen, kann man bei Ernst Klee „Euthanasie“ im Dritten Reich nachlesen, das in Ilten erst im Jahr 1942 die Sterberate aufgrund von Hungersterben bei 16 % liegt (S. 419 Tabelle). Der „Erfinder“ der Hungerkost ist Heinz Faulstich (Kaufbeuren-Irrsee - Film über „Nebel im August“ bekannt - Opfer Ernst Lossa? Die -Sterberaten in Ilten von 1944-1947 sind auf S. 488 ebenfalls nachzulesen. Am höchsten war sie 1945 mit 23.2 %. Alles was über 20 % ist, geht man davon aus, das dort nicht die Kriegsumstände das einzige Problem waren, sondern tatsächlich die mangelnde Versorgung.

Für Fragen stehe ich weiter zur Verfügung.
Du kannst dich gerne auch an den AK Euthanasie wenden, der hilft auch gerne weiter.

Viele Grüße

Inga

Liebe Nicole,

bezüglich deiner Einschätzung er sei nicht krank gewesen, weil er arbeiten konnte.

Das stimmt so nicht. Es gibt hoch funktionell arbeitende psychisch kranke Menschen. Wenn jemand z. B. manisch-depressiv (alter Begriff) - neu „bipolare Störung“ oder eine Persönlichkeitsstörung hat, ist er / sie in der Lage phasenweise zu arbeiten.
Auch in der Klinik haben die Patient*innen in der Landwirtschaft gearbeitet und wurden beschäftigt in Küche und in den privaten Haushalten des Personals (meist den Direktoren). Es ist also möglich gewesen, das die Person wirklich psychisch krank war.

Nicht alle waren „gesunde“ Opfer. Es waren in der Hauptsache Kranke, die getötet wurden.
Es liegt mir aber fern ohne Krankenakte und ohne die näheren Umstände zu kennen ein Urteil darüber zu fällen. Kein seriöser Arzt / Medizinhistoriker oder Historiker, geschweige ich als Laienforscherin würde sich zu so einer Aussage hinreißen lassen.
Ich bin aktives Mitglied des AK Euthanasie und selber familiär betroffene Angehörige.

Die meisten Gedenkstätten / ehemalige Kliniken - heutige Kliniken öffnen sich uns Angehörigen und sind bereit Auskunft zu geben.
Ich möchte Mut machen dort direkt als erstes zu fragen.

Viel Glück auf der weiteren Forschungsreise.

Inga

P.S.: [Arbeitskreis | zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation https://www.ak-ns-euthanasie.de/

Liebe Inga,

ich bin begeistert über deine äußerst detaillierte Antwort, die auch weitere Aspekte erwähnt. Ganz herzlichen Dank dafür!!!

Gerne werde ich deinen Ratschlägen folgen und mich an die Anstalt selber wenden und auch im AK NS-Euthanasie recherchieren.

Besteht deinerseits Interesse an einer Kopie ‚Würzburger medizinhistorische Mitteilungen‘ Band 2, 1984, ‚Hundert Jahre Ilten - Hundert Jahre Psychatrie‘ von Hans Werner Janz? Ich könnte sie dir als lose Blattsammlung gerne zuschicken (dann bitte Adresse per PN an mich).

Mir wurde das Werk netterweise von Frau Dr. Engelbracht gesandt. Die Lebensumstände (Hygiene, Krankheiten, Kriegsschäden etc.) werden im Bereich ab 1948 umrissen, hauptsächlich geht es aber um die Fortschritte der Psychatrie und einer zunehmend menschlicheren Sichtweise auf die Patienten.

Viele Grüße!

Nicole

-----Original-Nachricht-----

Liebe Nicole,

dafür nicht.
Ich danke dir für dein Angebot, aber ich versuche nicht all zu viel Literatur anzusammeln. Mein Fachgebiet ist Meseritz-Obrawalde und die pommerschen Anstalten (Lebork/Lauenburg, Treptow a. d. Rega, Stralsund und Ueckermünde). Bei mir sammelt sich schon deswegen viel an.

Schau in die Quellenverweise, schau youtube zum Thema Euthanasie. Es hilft Ideen zu entwickeln.
Aber bei Tod 1938 gehört der Verstorbene nicht in den Bereich der Euthanasie im eigentlichen Sinne.

Die Begann im Osten 1939 (Stralsund wurden die Kliniken für die SS geleert und die Patienten tlw. erschossen (Kurt Eimann), teilweise verhungerten sie in den Zwischenanstalten. Es war Schwede-Coburg, der übereifrig schon vor der „Aktion T4“ 1940/41 in den Tötungsanstalten (Hadamar, Grafeneck, Bernburg/ Saale, Brandenburg/Görden, Pirna/Sonnenstein, Hartheim) seine eigene" wilde Euthanasie" in den pommerschen Gebieten betrieb. Achtung, der Begriff wird auch für die Zeit nach dem Stopp durch Galen et al. verwendet- verhungern kam ab Ende 1941 dazu. Ab 1942 wurde in Meseritz-Obrawalde nicht mit Gas, aber mit Spritzen, verhungern, tödliche Getränkecocktails getötet.

Ich kann dir nur empfehlen dir in der nächsten Bibliothek Ernst Klee zu besorgen. Ja, er war kein Historiker, denn er war Journalist, aber er hat sich an der Anklageschrift von Fritz Baur orientiert und die Struktur übernommen. Götz Aly und andere benutzen oft Ernst Klee als Quelle.

Der Begriff „T4“ ist übrigens kein Begriff, der im Nationalsozialismus genutzt wurde. Das wurde letztes Wochenende auf der Tagung gut umrissen, wie sich die „Aktion T4“ in der Nachkriegsforschung in der Literatur als Begriff abgeschliffen hat.

Der Arbeitskreis Euthanasie ist wirklich ein guter Zusammenschluss von Historikern, Medizinhistorikern, anderen akademischen Berufen und Laienforschern / betroffenen Angehörigen.

Ziel ist es, das Thema nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die Gedenkstätten gut aufzustellen. Es wird über neue Publikationen und Forschungen referiert. Und es ist noch viel Arbeit bis alle Opfer ihre Namen zurück erhalten und vielleicht auch mit Bildern in den Gedenkbüchern Vorort Erwähnung finden. Der Arbeitskreis Euthanasie wurde 1983 u. a. von Michael Wunder mitbegründet.
Schau mal das Video mit Antje Kosemund (sie lebt noch!) auf youtube.

Meine Schwester Irma. Ein Opfer der „Kinder-Euthanasie“ - YouTube

Die Iltener hatten in den 1990er noch mal einen Skandal mit unhaltbaren Zuständen in der Klinik. Nachlesbar online, wenn du entsprechend Tante Gockel fragst. Das hab ich nur oberflächlich angerissen, da ich mich nicht allzu sehr regional einlese. Ich weiß nur, welche Begriffe ich nutzen müsste.

Liebe Grüße

Inga