Staatenlosigkeit während NS-Zeit

Hallo zusammen! Ich versuche gerade die Biographie meiner Urgroßeltern nachzuvollziehen und scheitere leider an mangelnden Geschichtskenntnissen. Vielleicht weiß der/die eine oder andere ja mehr dazu: Mein Urgroßvater, geb. 1887, war Einwanderer aus Polen und hat in Süddorf, Edewecht gelebt. Wann er hergekommen ist, kann ich leider nicht nachvollziehen. Hier wäre die erste Frage: Wo könnte ich das denn herausbekommen? Und jetzt kommt der komplizierte Teil: In unserer Familie heißt es immer, der Uropa wäre „staatenlos“ gewesen und seine Frau sowie sein Sohn (mein Opa) wären es durch ihn auch geworden. Ich verfüge zwar über ein solides Wissen zur Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, aber ich kann mir nicht erklären, wie es zu dieser Staatenlosigkeit kam. Wurde die polnische Staatsbürgerschaft durch die Besetzung Polens vielleicht aufgelöst und dann keine für das Deutsche Reich angeboten? Und was bedeutete das denn dann für den Alltag? Ich freue mich über jeden Hinweis, auch wenn es nur Ideen sind, wie ich da weiterkommen könnte. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit und viele Grüße in meine alte Heimat aus Bonn! Nicole

Hallo Nicole,

ich habe vor kurzem eine ähnliche Suche in einem anderen Zusammenhang durchgeführt. Ich könnte mir vorstellen, daß Dein Urgroßvater eventuell eine ähnliche Lebensgeschichte hatte, ich möchte deshalb hier meine Gedanken / Überlegungen / Vermutungen mal auflisten, vielleicht ist das eine oder andere für Dich hilfreich. Den schwierigsten Punkt sehe ich in der Staatenlosigkeit.

  • Mit Geburtsjahr 1908 wanderte „mein“ Pole nach Frankreich aus, als die Nazis Polen überfallen hatten. Zahlreiche Polen gingen damals nach Frankreich und Belgien. Nach Deutschland wanderte damals wohl kein Pole freiwillig aus, da wäre auch gar nicht möglich gewesen.

Wenn Dein Urgroßvater freiwillig nach Deutschland eingewandert wäre, hätte er das wahrscheinlich lange vor der NS-Zeit gemacht. Er wäre entweder ein Saisonarbeiter / Wanderarbeiter und dann weiterhin ein Pole gewesen oder er wäre nach Deutschland ausgewandert, wofür er aber eine Erlaubnis benötigt und dann eine deutsche Staatsangehörigkeit bekommen hätte. Letzteres war aber nicht leicht zu bekommen. In diesem Fall wäre es auch denkbar, daß die Nazis ihm die mal erhaltene deutsche Staatsangehörigkeit wieder weggenommen haben, da sie ihn weiterhin als Pole (d.h. als Feind) betrachteten. Damit wäre er staatenlos gewesen, denn die polnische Staatsangehörigkeit hätte er dann ja bei der früheren Auswanderung aufgegeben.

Bei einer evtl. direkten Verschleppung aus Polen zur NS-Zeit wäre er nach dem Krieg nicht staatenlos gewesen.

  • Als die Deutschen einen Teil Frankreichs inkl. Paris besetzten, flüchteten viele polnische Flüchtlinge weiter, einige gingen nach England, viele wanderten aber auch endgültig nach Nord-oder Südamerika aus. Nicht alle Polen hatten das Glück, noch rechtzeitig das von Deutschland besetzte Land verlassen zu können, viele wurden von den deutschen Besatzern verhaftet, ermordet oder als Zwangsarbeiter verschleppt, größtenteils nach Deutschland.
  • Das Ammerland in Nordwest-Deutschland, zu dem Edewecht gehört, hatte damals riesige Moorflächen, wo einige große Torffirmen Torf abbauten. Es ist bekannt, daß in der Region viele Zwangsarbeiter eingesetzt wurden und in großen KZ-ähnlichen Lagern eingesperrt waren.

Dein Urgroßvater war mit Geburtsjahr 1887 wesentlich älter als mein Fall, aber vermutlich nicht zu alt, um von den Nazis als Zwangsarbeiter eingesetzt zu werden. Wie gesagt, das ist nur eine Theorie meinerseits.

Nach Kriegsende wurden ehemalige Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge, Nazi-/ Kriegsopfer im weitesten Sinn, die keine Staatsangehörigkeit mehr hatten und sich bei Kriegsende in Deutschland befanden, von den Alliierten offiziell als „displaced people“ d.h. „staatenlos“ erfaßt. Das stand meist auch im Zusammenhang mit einem Fürsorgeantrag.

Du nennst keine weiteren Daten Deines Urgroßvaters. Weißt Du, ob er nach dem Krieg weiterhin in Süddorf / Edewecht gelebt hat und dort auch gestorben ist? Falls Du dies nicht weißt, könnte es durchaus sein, daß er Edewecht irgendwann verlassen hat, wenn er dort nicht freiwillig war. Aber oft sind ehemalige Zwangsarbeiter auch in ihrem „Ort der Befreiung“ geblieben, wenn in ihrer Heimat nichts und niemand mehr war, wohin sie zurückgehen konnten.

Ich möchte Dir empfehlen, im „Arolsen Archiv“ zu recherchieren: Wenn Dein Großvater evtl. ein Zwangsarbeiter gewesen ist und nach dem Krieg als „staatenlos“ galt, hat er wahrscheinlich einen Fürsorgeantrag stellen müssen, besonders wenn er eine Familie hatte. Wenn das der Fall sein sollte und Du Glück hast, ist diese Akte vielleicht im Arolsen Archiv vorhanden:

https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/

Du könntest es auch mal im Landesarchiv Niedersachsen versuchen, manchmal wird man dort auch fündig, https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/einfachesuche.action

Oder im Bundesarchiv / Personen- Ahnenforschung:

https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Artikel/Benutzen/Hinweise-zur-Benutzung/benutzen-hinweise-personen-und-ahnenforschung.html

Ich hoffe, ich konnte Dir ein wenig weiterhelfen. Viel Glück bei Deiner weiteren Suche.

Herzliche Grüße

Ingrid Kruse-Walther

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Liebe Inge,

vielen, vielen Dank für deine Erläuterungen! Das ist sehr viel mehr als ich erwarten konnte - du hast mir wirklich sehr geholfen. Für mich war diese Staatenlosigkeit eine absolue Black Box und jetzt verstehe ich viel besser, was das eigentlich bedeutete.

Mein Urgroßvater ist höchstwahrscheinlich freiwillig nach Deutschland gekommen, da wir eine Station in Schwerin von ihm kennen und er später in Süddorf als „freier Handelsvertreter“ (er hat Kurzwaren per Fahrradladen verkauft) gearbeitet hat. Da passt dein Hinweis mit den Wanderarbeitern sehr gut. Trotzdem sind die Geschichten, die ich von ihm habe sehr anekdotenhaft und deshalb werde ich dennoch mal die Theorie mit der Zwangsarbeit überprüfen. So oder so hast du mir einige sehr gute Spuren gegeben, denen ich jetzt einmal nachgehen werde. Vielen Dank dafür!

Ich wünsche dir auch viel Glück bei deiner eigenen Suche!
Herzliche Grüße
Nicole