Rezension: David Sabeans Geschichte des Inzests

Originally published at: Rezension: David Sabeans Geschichte des Inzests • Verein für Computergenealogie e.V. (CompGen)

Anlässlich von David Warren Sabeans 85. Geburtstag am 28.8.2024 möchte ich auf seine vor kurzem erschienene dreibändige Studie über die Geschichte des Inzests vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinweisen. Sie bildet den vorläufigen Abschluss jahrzehntelanger Studien in einem Feld, das kein anderer so geprägt hat wie er, der Geschichte der Verwandtschaft. Diese ist für die genealogische Forschung offenkundig bedeutsam, auch wenn Geschichtswissenschaft und Genealogie keineswegs deckungsgleich sind und es gerade in der neuen Studie nicht so sehr um Praktiken, sondern vor allem um Diskurse geht. Die Breite von Sabeans Forschungen (darunter zwei Bücher über den württembergischen Flecken Neckarhausen) kann hier ohnehin nicht gewürdigt werden. Ich möchte daher nur auf wenige Punkte hinweisen, die für die genealogische Forschung interessant, aber auch irritierend sein könnten.


  • In der Genealogie wie in der Alltagssprache ist die Vorstellung verbreitet, dass man mit denjenigen Menschen verwandt ist, mit denen man gemeinsame Vorfahren hat. Nicht nur Sabean, sondern auch die gesamte geschichtswissenschaftliche und ethnologische Forschung, auf die er sich bezieht, meint mit Verwandtschaft mehr: auch die Heiratsverwandtschaft, auch die durch Adoption entstandenen Verbindungen, auch Beziehungen, die durch Patenschaft oder Ordensgelübde oder je nach Kultur noch andere Verbindungen entstehen. „Ahnenforschung“ im engeren Sinne erscheint demgegenüber, nun ja, eng.
  • „Inzest“ ist natürlich ein aufregendes Thema. In der Alltagssprache ist es verbunden mit „Inzucht“. Vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war Inzest nicht weniger aufregend als heute. Jedoch kam niemand auf den Gedanken, die Heirat zwischen Cousins und Cousinen mit ihren erbbiologischen Folgen sei dabei das Hauptproblem. Wegen ihres inzestuösen Charakters dagegen heftig debattiert wurden z.B. im 18. Jahrhundert die Heiraten von Witwern mit Schwestern ihrer verstorbenen Frauen.
  • In der Genealogie taucht ein dritter Begriff häufig auf, der so ähnlich klingt und ein ähnliches Thema beschreibt, nämlich „Implex“. Bekanntlich beschreibt dies das Phänomen des „Ahnenschwunds“: über die Generationen hinweg ist ein erheblicher Teil der Positionen in der Ahnentafel von identischen Personen belegt. Der „Implex“ ist in der Genealogie immer wieder Thema, ruft in der Geschichtswissenschaft aber keinerlei Interesse hervor. Auch bei Sabean kommt der Begriff nicht vor.
  • Blinde Flecken sind oft ein guter Anlass für neue Ideen. Hier ist der blinde Fleck vielleicht auf beiden Seiten zu verorten. Auf der genealogischen Seite: Was wissen wir eigentlich über die Ursprünge, über Sinn und Zweck dieser eigentümlichen Befassung mit dem „Implex“ – mit einem Phänomen, für das das große etablierte Fach, als dessen Hilfswissenschaft die Genealogie sich doch versteht, gar keinen Blick hat? Hier würde es sich lohnen, sich den wissenschaftshistorischen Umschwung in der Genealogie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts näher anzuschauen: vom Adel zum Bürgertum (und dann auch zum „Bauerntum“), von der Archivbenutzung durch Eliten zur Öffnung der Archive für die breite Bevölkerung, vom Blick auf die meist männlichen Träger von Herrschaftsrechten hin zum „Mutterstamm“ und den Frauen, von Erbansprüchen hin zur Betrachtung von „Familiencharakteren“, die man sich damals als eine Art Aufsummierung von beliebig kleinen „Erbgut“-Bruchteilen dachte. Diese Biologisierung des Selbstbildes vieler vor allem bürgerlicher Familien könnte durchaus zu den treibenden Kräften gehört haben, die um 1900 auch die Biologisierung des gesellschaftlichen Begriffs von Verwandtschaft und Inzest bewirkten. Sabean scheint das nicht zu sehen, es ist aber interessant.
  • Forschungen, die man über Jahrzehnte betreibt, laufen erfahrungsgemäß Gefahr, nie abgeschlossen und nie veröffentlicht zu werden. Sabean ist zu beglückwünschen, dass er mit bald 85 Jahren sein tausendseitiges Inzest-Werk publiziert hat. Er hat es nicht nur publiziert, sondern auch dafür gesorgt, dass es unter einer Open-Access-Lizenz online zugänglich ist. Auch das familiengeschichtliche Datenmaterial zu den beiden Neckarhausen-Büchern wird von einem seiner Schüler nach und nach im Datenrepositorium der University of California in Los Angeles online gestellt.

David W. Sabean: A Delicate Choreography. Kinship Practices and Incest Discourses in the West since the Renaissance, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2023. https://doi.org/10.1515/9783111014548

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