Noch eine schöne Geschichte: Heinrich von Schwichell

Liebe Listenleser,
ermuntert durch viele positive Zuschriften (über die Liste und an mich
direkt), für die ich mich herzlich bedanke, möchte ich noch einen längeren Beitrag
folgen lassen. Vielleicht trägt das dazu bei, den "Anfängern" unter uns Mut
zu machen, tiefer zu graben und auch schwierige Forschungsphasen
durchzustehen, wenn ich hier die spannende Geschichte eines Spitzenahns vorstelle. Und
auch die Erfahreneren unter uns, so hoffe ich, werden sich nicht langweilen.

Dieser Spitzenahn steht in direkter Verbindung zu jener Geschichte über
Blutschande im Kirchspiel Heiligenwalde. Jener Spitzenahn legte die Basis,
ertauschte das Gut in Kalkeim, welches dann über 300 Jahre in der Familie blieb.
Aber lesen Sie selbst. Der folgende Aufsatz wurde im letzten Winterheft des
"Samlandbriefes" veröffentlicht:

Heinrich von Schwichell
Ein ostpreußischer Glockengießer und Urahn einer samländischen Familie

Im Herbst 1514 betritt Heinrich von Schwichell vermutlich das erste Mal
preußischen Boden. Er kommt per Schiff aus dem Baltikum. Der Livländische
Ordensmeister Wolter von Plettenberg hat dem Hochmeister Albrecht von
Brandenburg-Ansbach (aus dem Hause Hohenzollern) über einen ordentlichen Gießer mit Namen
Heinrich nach Königsberg berichtet. Der Hochmeister hat jenen auch sogleich
angefordert. Und so kommt Heinrich nach Königsberg.

Der seit 1511 regierende neue Hochmeister hat kühne Pläne. Er will auf jeden
Fall den anstehenden Lehenseid, die hoheitliche Unterwerfung unter die
polnische Krone vermeiden. Bisher hat er die angesetzten Termine durch plausible
Ausreden verschieben können. Sein Onkel, der König von Polen wird sich aber
trotz der Familienbande nicht auf ewig vertrösten lassen. Albrechts Mutter ist
eine Schwester des polnischen Königs Sigismund. Dieser verwandtschaftliche
Bezug war auch ein triftiger Grund für Albrechts Berufung auf den
Hochmeisterstuhl. Hinter den Kulissen werden nach allen Richtungen diplomatische
Bündnisverhandlungen intensiviert, um auf eine anstehende Auseinandersetzung gut
gerüstet zu sein. Ein guter Gießer, der sein Handwerk versteht, kommt da natürlich
sehr gelegen. Haltbare Geschütze, die nicht gleich nach den ersten Schüssen
zerbersten, können kriegsentscheidend sein.

Heinrich von Schwichell wird vom Hochmeister in Dienst auf Lebenszeit
genommen. Zum Krieg mit Polen kommt es erst 1520/21. Bis dahin bleibt Zeit, etliche
Glocken zu gießen.

Der Glockenguß unterscheidet sich, rein technisch betrachtet, nur wenig von
der Geschützherstellung. Das Mischungsverhältnis der Metalle Kupfer und Zinn
ist ein geringfügig anderes. Traditionell haben Glockengießer immer auch
Geschütze, oder wie man damals sagte, Büchsen gegossen, je nach dem, wie die
kriegerischen oder friedlichen Zeiten es erfordert haben. Glocken werden in
Kriegszeiten geraubt und zu Kanonen gegossen und nach Friedensschluß hat man aus
dem Metall erbeuteter Kanonen wieder die fehlenden Glocken ersetzt. So
geschieht es auch nach dem sogenannten Reiterkrieg gegen Polen 1520/21, der
letztlich für beide Teile nur hohe Verluste gebracht und die Machtfrage nicht
entschieden hat.

Man vereinbart einen vorläufigen Frieden auf 4 Jahre. In diesen Jahren reist
der Hochmeister viel umher, um für seine Angelegenheit zu werben. Man
interessiert sich jedoch nicht sonderlich für das ferne Preußen. Luthers Ideen
sorgen für Unruhe im Reich. Der Hochmeister trifft sich heimlich mit ihm. Die
Verhandlungen mit dem polnischen König in Krakau nehmen eine überraschende
Wendung: 1525 kommt es zu einem Staatsstreich. Der Hochmeister macht aus dem ihm
unterstellten Ordensland ein erbliches Herzogtum. Er leistet dem polnischen
König den Lehenseid. Der König läßt offiziell aus Krakau verlauten, der Orden
habe sein Recht auf das Land verwirkt, da dieser es seit 1511 nicht für nötig
gehalten habe, das Lehen zu erneuern. So habe er von seinem Recht auf
Neuvergabe gebraucht gemacht. Preußen wird protestantisch, auch um sich vom Orden
und vom Papst als ehemaligen obersten Herrn zu distanzieren. Das mag hier als
historischer Hintergrund zur Entstehungszeit von Heinrichs Glocken genügen.

Der ostpreußische Provinzialkonservator Prof. Dr. Richard Dethlefsen findet
1917 noch 5 Glocken aus der Hand von Heinrich von Schwichel(l/t) (oder
niederdeutsch auch Hinnerik van Swichel/t) im Lande vor. Sie werden allesamt als
historisch und musikalisch wertvoll klassifiziert und entgehen dadurch der
Verwertung in der Rüstungsindustrie des 1. Weltkriegs: 1515 Böttchersdorf, Kreis
Bartenstein; 1518 Marienthal, Kreis Rastenburg; 1521 zwei Glocken in Medenau,
Kreis Fischhausen, 1522 Thierenberg, Kreis Fischhausen. Über 400 Jahre lang
klangen Heinrichs Glocken in Ostpreußen und im Samland. Sie haben den 2.
Weltkrieg wohl nicht mehr überstanden.

Es gab aber noch weit mehr Glocken von diesem Gießer, die jedoch im Laufe
der Jahrhunderte umgegossen wurden und daher in der Neuzeit in Vergessenheit
geraten sind. Durch Zufallsfunde in Stadt- und Kirchenchroniken oder in
zeitgenössischen Briefen (im Staatsarchiv Berlin) habe ich noch folgende Nachweise
finden können: 1515 Gr.Ottenhagen, Kreis Königsberg; 1515 Heiligenwalde, Kreis
Königsberg; 1517 Danzig, St.Johannis; 1521 Schippenbeil, Kreis Bartenstein
und möglicherweise noch eine Glocke in Fleming, Kreis Rößel.

Zurück zu Heinrich: aufgrund der leeren Kassen nach dem Reiterkrieg bekommt
Heinrich das Dorf Seeben bei Kreutzburg als Entgelt für seine Dienste zur
Nutzung überlassen. Nach 1522 sind, soweit bisher bekannt, keine Glocken mehr
von Heinrich entstanden. Offenbar kümmert er sich seitdem um die
Bewirtschaftung seines Landbesitzes.

Erst 1535 geben Archivdokumente wieder Kunde von Heinrich: im Oktober erhält
er den Zulaß, sich in Königsberg niederzulassen. 1536 bittet Heinrich seinen
Herzog, daß Dorf Seeben verkaufen zu dürfen, beklagt sich über ungetreues
Gesinde, das harte Landleben und berichtet von einem Hauskauf in Königsberg.
1542 tauscht Heinrich das Königsberger Stadthaus gegen ein Landgut in Kalkeim.
Der herzogliche Rentmeister Georg Ogelin (heute würde man Finanzminister
sagen) bekam jenes Landgut eigentlich für seine Dienste zugesprochen. Er übernahm
den Besitz erst gar nicht, sondern tauschte ihn sogleich gegen Heinrichs
bequemes Stadthaus. Das Kalkeimer Gut, gelegen in den Pregelniederungen im
südöstlichen Samland (Kirchspiel Heiligenwalde), blieb für über 300 Jahre in
Familienbesitz. Umgerechnet nach heutigem Maße ergibt sich eine Größe von ca. 120
ha. Der Name „von Schwichell“ veränderte sich: „von Schweicheln“ heißt es
bereits in der Urkunde von 1542, dann später Schweichel oder Schweicheler und
im 17. Jahrhundert hat sich der Name Schweichler, manchmal noch Schweigler
geschrieben, durchgesetzt. Das „von“ verliert sich bei Heinrichs Enkeln.
Glockengießer ist niemand mehr geworden. Überwiegend finden sich sogenannte
Cöllmer, freie Bauern, unter den Namensträgern. Aber auch in Verwaltungsämtern
taucht der Name auf: z.B. als Conrector der samländischen Creiß-Justiz-Commission
um 1780. Ein Organist Schweichler findet sich z.B. um 1750 in Fischhausen.

Der Name Schweichler breitet im Laufe der Jahrhunderte überall im Samland
und in alle Teile Ostpreußens aus. Bei allen diesen Namensträgern ist Heinrich
von Schwichell als Urahn zu vermuten. Ein auf die Kalkheimer Abstammung
zurückzuführender Namensträger heiratet um 1790 in eine Krügerfamilie am Kurischen
Haff ein. Ab ca. 1800 wird der Krug in dem kleinen Fischerdorf Stombeck von
der Familie Schweichler geführt. 1932 wird dort meine Mutter Betty
Schweichler geboren. 1948 endet jener ostpreußische Teil der Geschichte Schweichler und
findet in dieser Linie 1949 eine Fortsetzung in Schleswig-Holstein.

Die Herkunft des Urahns dieser Familie, des Glockengießers Hinnerik van
Swichel / Heinrich von Schwichell liegt noch im Dunkeln. Der Name von
Schwichel(l/d/t) kommt in der Region Hildesheim vor. Dort gibt es seit mittelalterlichen
Zeiten ein reich begütertes Rittergeschlecht diesen Namens, welches 1790 in
den Grafenstand erhoben wird. Der letzte männliche Namensträger Graf Kurt von
Schwicheldt verstirbt 1908. In den überlieferten Stammtafeln dieser Familie
gibt es in der fraglichen Zeit mehrere Heinrichs, die aber alle nicht recht
passen. Außerdem erscheint es undenkbar, das ein Sproß jenes adelsstolzen,
Schlösser und Burgen besitzenden Geschlechts ein Handwerk ausübt.

Von Heinrich sind sehr eigenwillige Glockeninschriften überliefert, die
vielleicht auf eine illegitime Geburt hinweisen. Eine große, um 1855 in
Heiligenwalde umgegossene Glocke hat ursprünglich folgende Inschrift getragen: IN
GOTTES LOB EVICKLICH * ALLEN GELAUBIG SELLEN * TROSTLICH BIN GEFREIT ICH * EIN
HURKINT EIGET MICH * MCCCCCXV. Aus Schippenbeil ist diese Glockeninschrift
überliefert: ICK BIN SO FRI ALS DEN WINT * DE MI EGHENT DAT IS VAN AERDEN EN
HORKINT * HENRICK VAN SVICHELT GOS MICH * MCCCCCXXI.

Heinrichs beruflicher Hintergrund läßt einen bedeutenden Lehrmeister
vermuten: Dokumente des Staatsarchivs belegen, daß Heinrich 1515 nach Kampen in
Holland reist, um seine Frau nach Erhalt einer festen Anstellung nach Preußen zu
holen. Kampen ist zu der Zeit eine bedeutende Hansestadt an einem Zufluß zum
Ijsselmeer gelegen, die regen Geschäftsverkehr übers Meer mit Preußen und den
baltischen Ländern pflegt. Außerdem ist sie die Heimatstadt eines der
bedeutendsten europäischen Glockengießer seiner Zeit: Geert van Wou oder Meister
Gherardus de Wou (1450-1527). Er fertigt Glocken in Osnabrück, Hamburg,
Stendal, Lüneburg, Kalkar, Münster, Xanten, Erfurt, Recklinghausen, Braunschweig,
Hagen/Westf., um nur die wichtigsten im heutigen Deutschland zu nennen. Geert
van Wou ist berühmt für seine vollkommen klingenden, harmonisch abgestimmten
Glocken. Meister Geert unterhält auch Geschäftsverbindungen zu Wolter von
Plettenberg nach Livland. Um 1501 werden Geschütze dorthin geliefert. 1509 hat
Johannes Schonenborch, ein Stiefsohn des Geert van Wou, in Riga Glocken
gegossen bzw. dorthin geliefert. Außerdem geben viele Aktenstücke aus der Zeit um
1520/30 des Berliner Staatsarchivs Kunde von einem Königsberger Kaufmann
Gerd/Gerrit von Wow, einem möglicherweise nahen Verwandten des berühmten Gießers.
So kann man annehmen, daß Heinrich sein Handwerk bei Meister Geert van Wou
erlernte.

Ich bin dankbar für jede Art von Hinweisen oder Ergänzungen zur
Schweichler-Familienforschung, sowie zu Glocken- und Kirchengeschichten hinsichtlich
Heinrich von Schwichell. Gerne beantworte ich auch Fragen in diesem Zusammenhang.

Grüße aus Berlin

Viktor Haupt