Neue CompGen-Vereinsspitze: Elf Fragen an Professor Dr. Georg Fertig

Originally published at: Neue CompGen-Vereinsspitze: Elf Fragen an Professor Dr. Georg Fertig • Verein für Computergenealogie e.V. (CompGen)

Wie bereits berichtet, hat die Jahreshauptversammlung des Vereins für Computergenealogie e.V. (CompGen) am 6. November 2021 Georg Fertig zum neuen 1. Vorsitzenden gewählt. Zuvor hat der 1962 geborene Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bereits im Vorstand als Stellvertreter von Susanne Nicola mitgearbeitet. Sie hatte den Verein seit 2017 geführt, aber nun nicht mehr kandidiert. Auf die frei gewordene Position als 2. Vorsitzender wählte die Mitgliederversammlung den Bremer Juristen Uwe Gesper.
Damit wir die beiden Neuen an der CompGen-Vereinsspitze besser kennen lernen, hat die Blog-Redaktion sie um ein Interview gebeten. In unseren „Elf Fragen an …“ waren wir neugierig auf ihre Biographie, ihre eigene Familienforschung und ihre Pläne für die Vorstandsarbeit in den kommenden Jahren.
Heute veröffentlichen wir – als ersten Teil der Vorstellung – die Antworten auf die elf Fragen an den neuen Vorstandsvorsitzenden Georg Fertig:

Welches sind in Deiner persönlichen Biographie die drei glücklichsten Momente oder die drei bedeutendsten Ereignisse gewesen?
Georg Fertig: Na, ihr legt ja ordentlich los mit den Fragen! Wirklich bedeutend sind für alle von uns die Momente, die uns persönlich verwandeln (und die, nicht ganz zufällig, auch der Gegenstand der Familiengeschichtsforschung sind): Geburt, Heirat und Tod. Für mich würde ich sagen: Die glücklichsten Momente waren die, in denen ich zum Vater wurde. Damit sind zwei von den drei gefragten Ereignissen genannt. Ansonsten ist glücklich immer der Moment, in dem ein Groschen fällt und ich endlich etwas begreife, für das ich lange Zeit zu doof gewesen war. Vor ein paar Wochen habe ich z.B. endlich kapiert, was das Wort „Ontologieverdacht“ bedeutet, und vor ein paar Tagen, was man alles mit SPARQL-Abfragen machen kann. Da war ich jeweils schon sehr stolz.

(mit Augenzwinkern:) Zu welchem Thema aus Deinem Privatleben möchtest Du nicht befragt werden?
Georg Fertig: Fußball.

Was siehst Du als Deine (größten) Stärken für die neue Aufgabe im CompGen-Vorstand?
Georg Fertig: Dass mich nicht die Schwächen, sondern die Stärken anderer interessieren.

Wie viele Stunden pro Woche verbringst Du selbst (durchschnittlich) mit eigener Familienforschung?
Georg Fertig: Im Moment: gar keine. Einige aus Garage und Ferienwohnung meiner Eltern gerettete Kisten warten auf mich. Darin stecken auch Schriften zur Familiengeschichte von meinem Großvater, der sich als Dichter verstand und sein Leben lang von der Geschichte der Deutschen geträumt hat. Wieviel Dichtung steckt wohl in seiner Familienforschung?

Wie bist du zur Familiengeschichtsforschung gekommen?
Georg Fertig: Darauf gibt es eigentlich zwei Antworten, eine private und eine wissenschaftliche. Die private hat mit meiner eigenen Herkunftsfamilie zu tun, in der die Beschäftigung mit den Vorfahren und Verwandten seit Generationen einen großen Raum einnimmt. Schon als 14jährigem wischte meine ahnenforschende Großtante mir die langen Haare aus der pickeligen Stirn und stellte anhand meiner somit (zu meinem Unwillen) sichtbar gewordenen Schädelform fest, ich sei ein „echter Rohmeyer“. Dass solche Zuschreibungen, man könne aus Herkunft und Physiognomie ablesen, wer man „echt“ oder „eigentlich“ ist, fragwürdig sind, versteht sich. Aus der Suche nach besseren Geschichtserzählungen folgte die Hinwendung zur Geschichtswissenschaft, dort das Interesse an der Historischen Demographie, die das Leben der vielen Menschen erschließt, die eben keine hochbedeutsamen Texte hinterlassen haben – und daraus dann die Arbeit mit Ortsfamilienbüchern in Dissertation und Habilitationsschrift.

Die meisten Genealogen interessieren sich für ihre eigenen Vorfahren. Was kommt bei deiner Art von Forschung heraus?
Georg Fertig: Familiengeschichtsforschung besteht ja schon lange nicht nur aus dem Zusammenstellen von Ahnentafeln für einen selbst, sondern auch aus der Erfassung von Quellen (wie z.B. in unseren Projekten zu Grabsteinen, Verlustlisten und vielen mehr) und auch aus der Arbeit an Ortsfamilienbüchern für andere. Unsere „Vorfahren“ sind nicht nur die Männer und Frauen, von denen wir persönlich abstammen, sondern die, die die Welt „vor“ uns „befahren“, bewohnt und belebt haben. Die Antwort ist, kurz gesagt: Die waren klüger und geistig beweglicher, als die üblichen Geschichtserzählungen ihnen so zutrauen. Das wird in Ortsfamilienbüchern besonders deshalb gut sichtbar, weil diese eben einen ganzen, für die Menschen damals hauptsächlich wichtigen Raum erfassen, nämlich die Gemeinde. Sie sind daher immer wieder als Quellengrundlage für wissenschaftliche Fragestellungen neu entdeckt worden, darunter anfänglich auch pseudobiologisch-rassenkundliche, seit den 1970er Jahren aber solche der Geschichte der Verwandtschaft, der Geschichte von Familie und Haushalt und solche der Volkswirtschaft und Demographie.

Welche Person in Deiner Familie findest Du besonders beeindruckend?
Georg Fertig: Meine Mutter. Davon abgesehen: Johann Balthasar Fertig, im 18. Jahrhundert von Friedrich II. angeworbener Immigrant ins pommersche Amt Königsholland, der dort gemeinsam mit anderen auf der versprochenen Abgabenfreiheit beharrte. Ob das allerdings so klug und geistig beweglich war? Er verstarb als Insasse der Festung Stettin.

Nenne bitte drei bis fünf Stichworte für die Gründe, die Dich zur Kandidatur für den Vorsitz im Verein für Computergenealogie bewegt haben?
Georg Fertig: An Anfang stand der Gedanke, dass Genealogie für die Geschichtswissenschaften generell ein extrem wichtiges, aber ziemlich weitgehend ignoriertes Thema ist. Ein paar sehr lesenswerte kulturwissenschaftliche, nicht eigentlich historische Beiträge gibt es, etwa von Elisabeth Timm, Amir Teicher, Fenella Cannell, Martine Segalen…; aber besonders in den Historischen Hilfswissenschaften wird über Genealogie kaum noch gesprochen. Die digitalen Geisteswissenschaften dagegen haben einen riesigen Bedarf danach, so etwas wie Genealogieinformatik und so etwas wie Bürgerwissenschaft neu zu erfinden. Kennt man CompGen erst einmal, dann sieht man das riesige Potential und den großen Ideenreichtum des Vereins, der nur auf Verwirklichung und Verbreitung wartet. Man muss eigentlich nur hier und da ein paar Dinge (wieder oder neu) richtig in Fluss bringen, dann ist der Effekt wirklich groß.

Welches wird die schwierigste und welches die schönste Aufgabe in der neuen Funktion an der Spitze von CompGen sein?
Georg Fertig: Die schwierigste ist wahrscheinlich, allen Bedürfnissen gerecht zu werden, die an CompGen gestellt werden: denen aus der regionalen Genealogie, denen aus der Leserschaft unserer Medien und denen aus der Geschichtswissenschaft, die gerade an allen Ecken und Enden entdeckt, wie superheiß die Themen Digitalisierung und Bürgerwissenschaft sind. Die schönste Aufgabe wird es sein, irgendwann nach dem Ende dieser elenden Pandemie zusammen mit unseren Partnern Matricula und Archion die im März 2020 schon perfekt durchgeplante Jubiläumstagung vor Ort in Halle an der Saale zu eröffnen.

Welche drei „Missionen“ willst Du bis zum Ende dieser zweijährigen Amtszeit im CompGen-Vorstand als „erledigt“ abhaken?
Georg Fertig: Man darf ja mal träumen, und zwei Jahre werden ziemlich sicher nicht reichen. Also: GOV und Gedbas4all als anerkannte Standards in der digitalen Geschichtswissenschaft. Eine unverwechselbare, moderne, durchlässige Website, die die Vielfalt unserer Angebote auffindbar macht und Menschen in die Mitarbeit an der Bürgerwissenschaft hereinholt. Und Medien, ob gedruckt oder online, an denen sich ein großer Kreis an Schreiber:innen verlässlich und gern beteiligt.

Was sollten die Vereinsmitglieder bzw. die Blog-Leserschaft noch über Dich wissen?
Georg Fertig: Ich habe nicht immer Zeit, und ich irre mich gelegentlich. Aber ich freue mich immer, mit anderen zu sprechen.

5 „Gefällt mir“

Georg (@Georg.Fertig) , da muss ich nachfragen.

Da google ich sofort, bekomme aber mindestens 2 Fortsetzungen (wer den anschließenden Link drückt wird es sehen)
https://www.google.com/search?q=Ontologie

Kannst Du uns mit maximal 3 Links in die Spur helfen?

Bis denne…
Bernhard

3 „Gefällt mir“

Hallo Klaus, gratuliere zum gelungenen Interview.
Grüße Peter

1 „Gefällt mir“

Bernhard, wenn man eine ironische Anspielung erklärt, wird sie nicht unbedingt lustiger.

Trotzdem: worauf ich hier angespielt habe, war der für die Genealogie sehr interessante Gedanke von Elisabeth Timm, die davon spricht, dass genealogisches Forschen von einem „Ontologieverdacht“ getrieben sei: zum Beispiel hier. Vor diesem Begriff bin ich ein paar Jahre rumgestanden wie ein Ochse. Ontologie bedeutet normalerweise: ein bestimmter Teil der Sprachphilosophie oder der Grundlagen der Philosophie, nämlich die Lehre davon, was es überhaupt bedeutet, wenn man davon spricht, dass etwas „ist“. Also die Lehre vom Seienden. Das ist hier natürlich nicht gemeint. Es gibt auch eine Verwendung in der Informatik, da ist „Ontologie“ so etwas wie eine Datenbank, nur in klüger. Warum auch immer - versteh einer die Informatiker. Das ist aber auch nicht gemeint.

Was sie meint: Menschen brauchen Beziehungen, z.B. Verwandte. Verwandtschaft ist aber nicht einfach so da, sondern wird in verschiedenen Gesellschaften auf unterschiedliche Weise „gemacht“. Schon kleine Kinder träumen davon, „in Wirklichkeit“ eine Prinzessin zu sein, es gibt also das Bedürfnis danach, auf eine andere Art mit Menschen verwandt zu sein, als das durch das Elternhaus gegeben ist. Man kann sich z.B. einen Schwager „machen“, wenn man einen braucht - dazu muss man halt heiraten. Ähnlich wurde im Mittelalter spirituelle Verwandtschaft „gemacht“, durch die Taufe. Viele solche Mach-Arten funktionieren so, dass sie die Annahme, den Glauben, den „Verdacht“ nutzen, dass es irgendeine Substanz, eine formelle Vertragsregelung, eine aufzudeckende Seelenfreundschaft oder sonst irgendetwas „seiendes“ gibt, das man aufdecken kann und damit Verwandtschaft macht. Materielle Substanzen dieser Art können in Milch, Samen, Blut, Taufwasser, Wattestäbchen usw. bestehen, geistig kann es um Gefühle oder aber auch Quellentexte oder Datenbanken gehen - immer wird Verwandtschaft „gemacht“.

Soweit das Argument von Timm. Um den Witz jetzt noch weiter zu erklären, damit garantiert keiner mehr etwas zu lachen hat: Ich finde, dass das ein ernstzunehmendes Argument ist, auch wenn ich nicht an jeder Stelle zustimme. Aber als jemand, der sich für Bürgerwissenschaft einsetzt, würde ich dazu raten, solche Gedanken so auszudrücken, dass sie auch von den Bürgern, über die hier gesprochen wird, verstanden werden können.

2 „Gefällt mir“

Hallo Georg,

Danke für Deine Gedankenerweiterungen :slight_smile:

Vielleicht hast Du ja Lust, die zugehörigen Artikel in Wikipedia etwas aufzuwerten?

Ich denke, es ist für die Entwicklung unserer Kultur wichtig, solche Gedanken verständlich zu teilen.

Mit herzlichem Gruss,
Markus

Hallo Markus,
danke, ja. Ich schreib aber im Moment noch an der Einleitung zu dem maßgeblich auch von Elisabeth Timm angeregten Sammelband Genealogien - und ich fürchte fast, das vorgesehene Erscheinungsdatum Ende 2021 nicht mehr schaffen zu können. Anderes Schreiben kommt später…
Herzliche Grüße und danke für das Feedback
Georg