Lieber Herr Derenek,
leider ist nicht klar, ob Ihr Herr Großvater erst während des 1. Weltkrieges
eingezogen wurde oder ob er schon vor August 1914 eingezogen wurde und somit
in einem Friedenstruppenteil gedient hatte und dann mit diesem in den Krieg
ging.
Grundsätzlich galt 1914 nach den Wehrgesetzen des und des Königreiches
Preußen Deutschen Reiches die folgende Regelung:
Das Ersatzwesen war im Deutschen Reich regional und territorial organisiert
und lag in Gemeinsamer Verantwortung der militärischen Stäbe als
territoriale Befehlshaber und der zivilen Verwaltung. Der Korpsbereich eines
jeden Armeekorps im Deutschen Reich bildete einen Ersatzbezirk für sich.
1886 waren es 17 Ersatzbezirke. Lediglich das Gardekorps hatte keinen
eigenen Ersatzbezirk, es bezog seinen Personalersatz aus allen Provinzen
Preußens und Elsass-Lothringen. Jeder Ersatzbezirk wurde in vier
Infanteriebrigadebezirke aufgeteilt, entsprechend der damaligen Gliederung
eines Armeecorps, das zwei Infanteriedivisionen mit jeweils zwei
Infanteriebrigaden führte. Die Kavallerie, die Artillerie und die anderen
Korpstruppen hatten keine eigenen Ersatzbezirke, sondern wurden von den
Infanteriebrigadebezirken anteilig mit Rekruten versorgt. Jeder
Infanteriebrigadebezirk wurde wiederum in vier bis 6
Landwehrbataillonsbezirke oder Aushebungsbezirke unterteilt. Jeder
Aushebungsbezirk hatte eine Ersatzkommission, deren Vorsitzende der
Landwehrbezirkskommandeur und ein Verwaltungsbeamter des Bezirks, meistens
der Landrat, waren. Einem Infanteriebrigadebezirk war eine
Oberersatzkommission zugeordnet, deren Vorsitzende der Kommandeur der
Infanteriebrigade und ein höherer Zivilverwaltungsbeamter waren. Der
Kommandierende General des Armeekorps und der Oberpräsident der Provinz
waren schließlich die Vorsitzenden der Ersatzbehörde der dritten Instanz.
Herborn gehörte als Teil der preussischen Provinz Hessen-Nassau zum dem
Ersatzbezirk des XVIII. Armeekorps in Frankfurt/Main und innerhalb dessen
vermutlich zum Brigadebezirk der 41. Infanteriebrigade.
Die 41. Infanteriebrigade war verantwortlich für den Personalersatz der
folgenden Regimenter:
1. Nassauisches Infanterie-Regiment Nr. 87
2. Nassauisches Infanterie-Regiment Nr. 88
sowie anteilig der Divisionstruppen der 21. Division:
21. Kavallerie-Brigade (Magdeburgisches Dragoner-Regiment Nr. 6 und
Thüringisches Ulanen-Regiment Nr. 6) und 21. Feld-Aertillerie-Brigade ( 1.
Nassauisches Feld-Artillerie-Regiment Nr. 27 "Oranien", 2. Nassauisches
Feld-Artillerie-Regiment Nr. 63 "Frankfurt")
und dazu noch ebenfalls anteilig der Korpstruppen des XVIII. Armeekorps:
Fußartillerie-Regiment General-Feldzeugmeister (Brandenburgisches) Nr. 3,
1. Nassauisches Pionier-Bataillon Nr. 21 und 2. Nassauisches
Pionier-Bataillon Nr. 25, des Großherzoglich Hessischen Train-Bataillons Nr.
18 sowie des Festungs-MG-Bataillon Nr. 8(zugeteilt dem Infanterie-Regiment
Nr. 88).
Die Truppenteile der 21. Division waren fast alle in Mainz, Wiesbaden,
Frankfurt, Hanau und Bad Homburg v.d.H. stationiert.
Im Verlauf des 1. Weltkrieges wurden zahlreiche zusätzliche Truppenteile und
Stäbe aufgestellt. Es ist mir leider nicht möglich hier aufzuzählen, welche
Truppenteile aus dem Bereich Hessen-Nassau noch aufgestellt wurden, da mir
dazu die Unterlagen fehlen.
Am besten wäre es vermutlich, einmal an das Stadtarchiv in Herborn zu
schreiben und mit dem Hinweis auf Ihren Großvater um Auskunft zu bitten.
Möglicherweise gibt es dort sogar noch Listen der Einberufenen mit der
Zuordnung zu Truppenteilen. Die Zerstörung des Heeresarchivs in Potsdam im
April 1945 hat leider die entsprechenden Unterlagen dort völlig vernichtet.
Was die Praxis der Bundeswehr bezüglich der Einberufung betrifft, so war es
nicht Gedankenlosigkeit oder Willkür, die den Truppenteil bestimmte, sondern
der Bedarf der Truppe. Bedingt durch die Verteidigungsplanung der Nato war
die Bundeswehr in drei Korpsbezirken stationiert, die mit Masse nahe der
inderdeutschen grenze lagen. Die alliierten Korps waren ebenfalls dort
stationiert und zwar so, dass es unmöglich war, nur ein Korps eines Staates
anzugreifen um so alliierte Korps auszusparen (und damit nicht in den Krieg
zu ziehen). Dadurch entstanden z.T. große "Lücken" in denen keine deutschen
Truppenteile stationiert waren und andererseits waren die Soldaten nicht
dort stationiert, wo die Masse der Bevölkerung lebte. Aufgrund politischer
Einflussnahme wurden verschiedenen Einberufungsmodelle entworfen und
praktiziert: es gab den Versuch der "heimatnahen Einberufung" - das ging nur
für Teile, andere mussten dann z.B. aus dem Ruhrgebiet nach
Schleswig-Holstein "ziehen" (siehe oben); ein anderer Versuch war, dass alle
gleichweit von zu Hause weg sollten - aus Gründen der Gerechtigkeit - das
bedeutete für fast alle Wehrpflichtigen etwa 150-200 Km Heimatferne, dann
wieder entschied man sich alle, die heimatnah verwendet werden konnten
heimatnah, die anderen dann "im großen Sprung" einzuziehen um so die
"Reiserei" zu begrenzen (die Fahrkarten auf der Eisenbahn für die Soldaten
kosteten ja schließlich auch viel Geld). Des Weiteren waren oft auch die
Berufe ausschlaggebend, da man versuchte, die Soldaten so berufsnah wie
möglich zu "ziehen". So gab es auf den Kreiswehrersatzämtern Kataloge
welcher Zivilberuf für welche militärische Tätigkeit verwendbar war.
Abiturienten ohne Berufsausbildung kamen da natürlich oft nicht so gut weg,
außerden verteilte man die gerne, da aus ihnen der Bedarf an
Reserveoffizieren gedeckt werden sollte und möglichst alle Truppenteile
etwas davon haben sollten. Fazit: Es ist alles nicht so einfach, wie man es
sich gerne macht und allen recht zu machen gelingt keinem.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für das neue Jahr
Ihr
Hans-Christoph Surkau