Das Potential der BOLSA für die Familiengeschichte Deutschlands nach 1945

Ursprünglich veröffentlicht unter: https://www.compgen.de/2020/03/das-potential-der-bolsa-fuer-die-familiengeschichte-deutschlands-nach-1945/

Im Jahr 2014 machte sich Christina von Hodenberg auf, um nach dem Verbleib der Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie zu forschen. Sie hatte den Plan gefasst, die 1968er Jahre mal nicht aus der Perspektive der jungen, sondern der alten Menschen zu erforschen. Dafür schien eine psychologische Studie, die zwischen 1965 und 1984 durchgeführt wurde, denkbar geeignet. Zwanzig Jahre lang hatte ein Team um Prof. Dr. Hans Thomae und Prof. Dr. Ursula Lehr Fragen des Alterns und von Alternsprozessen erforscht. Dieser Ansatz war innovativ. Längsschnittstudien führte man zu dieser Zeit vornehmlich mit jungen Menschen durch. Thomae und Lehr übertrugen das Modell jedoch in die Altersforschung und initiierten damit eine der bedeutendsten Längsschnittstudien überhaupt.


Im Mittelpunkt standen

psychologische Forschungsthemen zur Analyse erfolgreicher Formen des Alterns

und von Faktoren der Langlebigkeit. Ursprünglich integrierte die Studie insgesamt

222 Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Ausgewählt wurden zu fast gleichen Teilen

Frauen und Männer aus zwei Alterskohorten der zwischen 1890-1895 sowie

1900-1905 Geborenen. Während sich die erste Alterskohorte zu Beginn der Studie

bereits im Ruhestand befand, stand die zweite kurz vor dem Eintritt in das

Rentenalter. Beide Gruppen hatten entweder als Kinder oder junge Erwachsene den

ersten Weltkrieg und als handelnde Generation den zweiten Weltkrieg erlebt.

Gezielt wurden nicht nur auch Frauen in die Stichprobe einbezogen – 1964

gehörte dies noch nicht zwangsläufig zum Standard – sondern vor allem Menschen

aus den unteren Mittelschichten gefunden. Immerhin noch 34 Probanden nahmen am

letzten der acht Untersuchungszyklen nach 20 Jahren teil.

Nunmehr befindet sich die BOLSA im Forschungsdatenbestand des Historischen Datenzentrums Sachsen-Anhalt. Hier werden lebenslaufspezifische und biografische Daten aufbereitet und für die Forschung (unter Beachtung des Datenschutzes) nutzbar gemacht. Der Bestand der BOLSA wurde gesichtet, verzeichnet und zur Digitalisierung kollationiert. Mittlerweile sind sowohl die ca. 40 Meter Akten, die etwa 3.000 Stunden Tonaufzeichnungen sowie die SPSS-Daten für die Nutzung aufbereitet worden. Vor allem die Erschließung und die Verzeichnung mit etwa 3.000 Schlagwörtern soll die Nutzung künftig erleichtern. In einem datengeschützten Portal werden die Bestände der BOLSA ab Frühjahr 2020 zu wissenschaftlichen Nutzung zur Verfügung stehen.

Im Jahr 2014 hatte die Studie
für die psychologische Forschung selbst allerdings weitgehend an Aktualität
verloren. Die Studie war vielfach ausgewertet, die Untersuchungsmethoden und
psychologischen Tests mittlerweile durch modernere Verfahren ersetzt worden.
Quasi im Dornröschenschlaf lagerten die Akten und Tonbänder mit 3.000 Stunden
Interviews dieser Personen in den Kellerräumen einer Universität und sollten
demnächst Platz für Neues machen, als sich Christina von Hodenberg dafür
interessierte. Es ist kein Zufall, dass eine Historikerin den Bestand
„wiederentdeckte“. Mittlerweile ist die BOLSA selbst zu einer Quelle der
Zeitgeschichte geworden. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Studie sind
bereits verstorben, geblieben sind ihre Berichte über den Alltag und ihre
Biografien. Diese Quellen bilden heute einen sehr kompakten Bestand an Oral
History-Interviews und vermutlich die älteste Sammlung in dieser Hinsicht
überhaupt ab. Aus dieser Perspektive scheint es fast unglaublich, dass die
Studie beinahe im Müll gelandet wäre. Der Werdegang der BOLSA ist jedoch
symptomatisch für den Umgang mit Forschungsdaten heute. Daher bilden sich
momentan viele Initiativen, um diese Schätze der Wissenschaft auch für die
Zukunft zu bewahren. Denn das Potential der BOLSA liegt in der Erweiterung der
Forschungsperspektiven, die sie etwa Sprachwissenschaftlern, Soziologen,
Demografen, Historikern, Erziehungswissenschaftlern und Medizinern bietet.

Am 4. April 2020 findet ab
17:00 Uhr im Steintorcampus (SR 12) der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg, Emil-Abderhalden-Str. 26/27 die feierliche Eröffnung des
Digitalen Archivs der BOLSA mit dem öffentlichen Vortrag von Prof. Dr.
Christina von Hodenberg „Das Potential der
BOLSA für die Familiengeschichte Deutschlands nach 1945“ statt.