Christian garve zum charakter der schlesier

Guten Abend Freunde,

obwohl ich nicht mit jedem Gedanken, bzw. der Interpretation dieser seitens des Autors dieses Beitrags, einverstanden bin, finde ich diesen dennoch sehr interessant und empfehlenswert.

Also, viel Spaß beim Lesen.

Mit herzlichen Grüßen

Peter Przybilla

P.S.

Falls jemand an diesem Beitrag interessiert sein sollte, bin ich auch gerne bereit diesen individuell zu versenden.

CHRISTIAN GARVE ZUM CHARAKTER DER SCHLESIER

von Eberhard G. Schulz aus "SCHLESIEN"

eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum 1967 - Jahrgang XII - Heft III

Sokrates hat seine philosophischen Gespräche nicht nur oft genug auf dem Markte, sondern auch gern für den Markt, das heißt zum Zwecke der Brauchbarkeit für das alltägliche Leben seiner Mitbürger geführt. Daß freilich eine Philosophie, die es auf Gemeinnützig­keit ihrer Gedanken abgesehen hat, bisweilen auch dem Unglück nicht entgeht, für ge­meingefährlich gehalten zu werden, ist ihm bekanntermaßen durch ein bitteres Ende ganz unmittelbar deutlich gemacht worden. Doch von diesem Unglück wollen wir absehen. Uns soll nur ein Glied in der Traditionskette beschäftigen, die Sokrates mit der bewußten Gemeinnützigkeit seiner Gedanken angefangen hat. Christian Garve in Breslau hat es wie sein Vorbild im alten Griechenland jedenfalls an der Ausrichtung des Denkens auf die gewöhnlichsten wie die höchsten Interessen der Menschheit nicht fehlen lassen. Der breite Bereich gerade unserer moralischen und sozialen Erfahrungen ist das beliebte Feld seiner feinen Analysen, die er mit dem Festhalten an Wahrheiten, die von diesen Erfah­rungen prinzipiell unabhängig sind, zu verbinden redlich versucht und damit in Kants Augen das Prädikat der Weisheit beispielhaft verdient hat.

Hat er es also keineswegs für unter der Würde des Philosophen gehalten, alles mensch­lich Interessierende zu untersuchen, so wird man sich nicht wundern, daß er sich auch über einige Charakterzüge seiner schlesischen Landsleute Gedanken gemacht hat.

Über die Schwierigkeiten einer Bestimmung unterscheidender Charaktermerkmale der Einwohner einer Provinz, die zu einer großen Nation gehören, ist Garve sich gründlich im klaren gewesen. In seiner Abhandlung über den Charakter der Bauern, die aus drei Vorlesungen besteht, die Garve vor der Schlesischen Ökonomischen Gesellschaft in Breslau gehalten hat, hebt er einleitend hervor, wieviel auffallender und daher leichter bestimm­bar Unterschiede in den Charaktereigenschaften von Menschen verschiedenen Standes als von Einwohnern verschiedener Provinzen seien. Ja, er erklärt hier eine solche Charakterschilderung der Einwohner einer Provinz für "fast unmöglich", da sie entweder nichts Bedeutendes oder etwas Falsches enthalte. "Wer kann es z. B. wagen", begründet unser Autor seine Meinung, "den Charakter der Schlesier mit einiger Zuverlässigkeit zu be­stimmen? Die Gränzen der Länder und Provinzen sind, nach so vielen Wanderungen, Eroberungen, Vertauschungen, nicht mehr die Grenzen der Nationen. Nicht da, wo eine neue Benennung des Landes anfängt, fängt auch ein neues System von Regierung, Religion und Sitten der Einwohner an. Pohlen und Deutsche sind gemeinschaftliche Einwohner von Schlesien: die Charaktere der beyden Nationen zeichnen sich noch immer merklich aus. Sachsen und Niederschlesien hingegen werden beyde von Deutschen bewohnt: die Unter­schiede der Menschen in beyden Provinzen sind feine kaum zu bemerkende Schattirungen."

Dennoch hat es den geborenen Menschenbeobachter gereizt, einige solcher Schattierun­gen zu bestimmen und über die Gründe ihrer Entstehung nachzudenken. Er hat sogar diesem Thema eine andere Vorlesung vor der Schlesischen Ökonomischen Gesellschaft gewidmet. Sie trägt zwar den Titel "Über die Lage Schlesiens in verschiedenen Zeit­punkten, und über die Vorzüge einer Hauptstadt vor Provinzialstädten", aber sie enthält vor allem einige Striche zur Charakterisierung der Schlesier, die freilich auf die histo­rische und politisch-geographische Situation Schlesiens zurückgeführt werden.

Was das Verhältnis zu den eigenen, einmal gefaßten Gedanken und Überzeugungen angeht, so erscheinen die Schlesier ihrem Landsmann Garve besonders beständig. Diese Beständigkeit zeigt sich vor allem in der Anhänglichkeit an religiöse Überzeugungen, was auch auf den sittlichen Charakter günstig einwirkt. Sie zeigt sich aber auch in einer konser­vativen Haltung, die durch bloße Anhänglichkeit an das Alte als solches, ohne eine Prüfung des Wertes vorzunehmen, fortschrittshemmend wirkt. Für beide Eigenschaften führt Garve denselben historischen Grund an. Die weitgehende Selbständigkeit der Stadt Bres­lau und einiger Teilfürstentümer ermöglichte es, daß trotz der katholisch bleibenden herr­schenden Dynastie die Annahme der lutherischen Reformation durch das Volk auf keine Hindernisse stieß. Bald aber setzte von seiten des österreichischen Herrscherhauses eine gewisse Zurücksetzung und Bedrückung der protestantischen Mehrheit unter den Einwoh­nern Schlesiens ein. Bedrohung aber führt natürlicherweise zur Festigkeit bei den Bedroh­ten. "Dadurch wurde", so drückt es Garve aus, "auf der einen Seite, bey den protestanti­schen Einwohnern, besonders bey dem Mittelstande, eine größere Anhänglichkeit an ihre Religion hervorgebracht: wodurch zugleich auch ihre Sitten reiner erhalten wurden. Auf der andern aber, ward auch die freyere Bekämpfung von Irrthümern und Vorurtheilen dadurch verhindert, und die Ergebenheit an alles Gewohnte und Hergebrachte bey den Schlesiern befestigt: weil nur die standhafte Beybehaltung des Alten eine Schutzwehr, ge­gen aufgedrungene Neuerungen, zu seyn schien."

    Bei der vergleichenden Schätzung von Leistungen und Einrichtungen der Menschen gibt der Schlesier, meint Garve, gern dem Ausländischen den Vorzug auch ohne hinreichen­den sachlichen Grund. Das hat ebenfalls konfessionsstrukturelle Gründe.

Man sieht hieran einmal mehr, daß man schlesische Verhältnisse auf kulturellem Gebiet über­haupt nicht verstehen kann, ohne die Konfessionsstruktur und die Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen sie sich in diesem Lande seit der Reformation gebildet hat. Herbert Schöffler hat die ganze soziologische Fruchtbarkeit dieses Gedankens für das schlesische Geistesleben Opitz bis zu Wolff eindrucksvoll vorgeführt (Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff. Frankfurt/Main 1956), ohne zu wissen, wie sehr Garve, der weithin vergessene Philosoph des nach verbreitetem Vorurteil unhistorischen Aufklärungszeitalters, ihm prinzipiell vorangegangen ist.

Denn im katho­lischen Österreich, zu dem die protestantischen Schlesier über zweihundert Jahre gehörten, waren Protestanten von den meisten Staatsstellungen ausgeschlossen und gingen daher notgedrungen, um ihr Glück zu machen, ins Ausland. Abgesehen davon, daß viele Talente dabei verdarben, so gilt für die glücklichen Fälle dies: "Jeder nimmt Denkungsart und Sitten, von dem Herrn und dem Lande an, welchem er dient und in dessen Dienste er sein Glück macht. Wenn, nach erhaltenem Zwecke, oder aus Sehnsucht nach Ruhe, der aus­gewanderte Schlesier nach Hause kam, so brachte er die Vorliebe für das Ausländische mit." Aber reicht diese Begründung aus, eine besondere Ausgeprägtheit dieser gemeindeutschen Nationaleigenschaft zu verstehen? Man kann sie leicht ergänzen,

Eine allgemeine Ergänzung der angeführten Begründung kann man sogar aus Garves eigenem Text entnehmen. Er stellt als Folge des historischen Schicksals Schlesiens fest, seine Einwohner bildeten "ihren Charakter und ihre Sitten immer nach Mustern aus, die ausser seinen Gränzen sich befanden".

indem man auf den Mangel einer Universität in Schlesien hinweist. So kam es, daß der talentvolle und nicht mittellose Schlesier im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert entweder italienische Universitäten oder die sächsische Universität Leipzig besuchte (im vierzehnten Jahrhundert war fast durchweg Prag der Studienort der Schlesier gewesen), im siebzehn­ten Jahrhundert dann holländische Universitäten, vorzüglich Leiden, oder Leipzig und Jena. Daß daneben für die Katholiken Wien eine wichtige Rolle spielte, versteht sich. Jeder Schlesier, der nach höherer Bildung strebte, mußte also außer Landes gehen. Auch das trug gewiß dazu bei, daß rühmliche Kunde vom Ausland in die etwas abgelegene Heimat drang, in der die erworbene Wissenschaft und das damit verbundene Ansehen jedenfalls nicht zu erringen gewesen waren.

Zwei weitere - ebenfalls negative - Charakterzüge der Schlesier sieht Garve im Geist der Regierung während der österreichischen Zeit begründet: die steife Förmlichkeit und Umständlichkeit und eine gewisse Langsamkeit und Schüchternheit. Auch hier muß man ihm hinsichtlich des Faktums wohl beistimmen. Aber sind die Förmlichkeit und Um­ständlichkeit aus dem Geist der österreichischen Regierung, die ja doch über Schlesien nur vorübergehend geherrscht hat, hinlänglich erklärt? Man muß wohl hier auch an die spe­zifische Selbständigkeit Breslaus und der Vasallen in Schlesien denken, die aus der Zeit der selbständigen Teilherzogtümer des Landes und der anschließenden eingeschränkten Abhängigkeit von der böhmischen Krone erhalten geblieben war. Garve hat selbst auf diese historischen Eigentümlichkeiten Schlesiens mehrfach hingewiesen und daraus sogar zum Teil ein eigenes Nationalgefühl der Schlesier hergeleitet.

Siehe seine Abhandlung über die Vaterlandsliebe aus dem II. Band seiner "Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben", Breslau 1796

Sollte nicht die Kompli­ziertheit der Rechtsverhältnisse, wie sie sich aus dieser besonderen staatsrechtlichen Situa­tion ergab, eine Veranlassung für Umständlichkeiten und das Alter und die Wertschät­zung dieser Besonderheit ein Grund für die Angewöhnung steifer Förmlichkeit gewesen sein?

Die Langsamkeit und Schüchternheit der Schlesier fiel besonders auf, als sich nach der Eroberung durch Preußen der Vergleich mit den Brandenburgern, Pommern und Ostpreu­ßen aufdrängte. Garve drückt das so aus: "Es ist dem militärischen Charakter eigen, daß er alles, was ihm nicht ähnlich ist, was, in Reden und Handlungen, nicht rasch, schnell und dreist geschieht, für Zeichen der Einfalt hält. Der etwas langsame, bescheidne, zu­weilen umständliche, zuweilen blöde Schlesier, kam also bey seinen neuen Gästen, die bald seine Mitbürger wurden, in den Verdacht, auch an Verstand und Geisteskräften unter ihnen zu seyn." Der Ausdruck "blöde" bedarf hier einer Erläuterung. Damit ist nicht Blödsinnigkeit, die völlige Abwesenheit aller menschlichen Gemütskräfte, sondern Blödigkeit oder Blödheit gemeint, die der Dreistigkeit entgegengesetzt ist und einen Mangel an gesunder Beherztheit bezeichnet, die aber ohne selbständige bürgerliche Aktivität nicht zu erwerben, also beim abhängigen Landmann nur selten anzutreffen ist. So hat man das einschränkende "zuweilen" bei Garve zu verstehen: Umständlich sind Adel und Bürger­tum, blöde ist bis zu einem gewissen Grade der Bauer, dem kein militärischer Drill eine rohe Dreistigkeit angewöhnt hat. Hinsichtlich der letzten beiden Charakterzüge, die Garve an seinen Landsleuten fand, stellt er nun positive Veränderungen fest während des ersten halben Jahrhunderts der Zugehörigkeit zu Preußen, in das fast sein ganzes Leben fällt. Die Schlesier bilden nun mit den Brandenburgern, Pommern und Ostpreußen "Eine Familie". Die Einwohner aller dieser Provinzen sind einander zu ihrem Vorteil ähnlicher geworden. "Wir Schlesier", sagt er, "sind etwas mehr soldatisch geworden... Die Brandenburger und Pommern haben dafür ihren alten kriegerischen Charakter, durch feinere Sitten und mehrere Kenntnisse, gemildert."

Wenn wir alle bis jetzt betrachteten Charakterzüge der Schlesier überblicken, so sind es erstens - mit einer teilweisen Ausnahme der Beständigkeit negative Eigenschaften, und zweitens erscheinen sie in irgendeiner Form letztlich als Folge des permanenten Provinzcharakters des schlesischen Landes, das ja nie eine nachhaltige selbständige politische Rolle gespielt hat. Die Bedrückung der schlesischen Protestanten war nur möglich, weil Schlesien eine Provinz des katholischen Österreich war. Und Förmlichkeit und Umständlich­keit hatten wir als Folge der rechtlichen Besonderheiten dieser Provinz verstanden. Lang­samkeit und Blödigkeit sind die Folge einer gewissen Weltabgeschiedenheit, also auch des provinziellen Charakters.

Mit ihm hängen nun auch die positiven Eigenschaften zusammen, die wir mit Garve an den Schlesiern zu erkennen vermögen: Bescheidenheit und Gründlichkeit und eine leb­hafte Tätigkeit mannigfaltiger Talente. Bescheidenheit und Gründlichkeit nimmt Garve für die Schlesier gar nicht ausdrücklich in Anspruch, aber natürlich implicite, indem er sie Eigenschaften aller Provinzeinwohner im Gegensatz zu den Hauptstädtern hervorhebt. Bietet die Hauptstadt den Vorzug der Anwesenheit einer Fülle erstrangiger Per­sönlichkeiten, teils in den Ämtern der Regierung, teils um solche Ämter auf sichtbarem Schauplatz sich bewerbend, so hat doch die Provinz den Vorzug der Ruhe und Unzer­streutheit, wo große Werke der Wissenschaften und der Dichtkunst besser reifen können

Deshalb hat Garve sogar Breslau oft monatelang verlassen, um auf dem Lande in Bad Char­lottenbrunn oder in Schleibitz auf dem Gute seines Freundes von Paczensky besser arbeiten zu können.

als im Trubel der Hauptstadt, in der man auch glänzen kann, wenn man nur blendet, statt zu erhellen.

Was nun die reiche Entfaltung verschiedener Talente angeht, so ist sie nicht so sehr der Provinzialität, sondern mehr noch dem geistigen Anstoß zuzuschreiben, der von der Reformation ausging. Wir hatten schon von der günstigen Rechtslage Schlesiens gespro­chen, die hier dem Zug der Zeit die Tür geöffnet hielt. Wie einst die Einführung des Christentums, so wirkt jetzt die Teilnahme an der Reformation in hohem Maße kulturfördernd, als Antrieb, "Kenntnisse zu erwerben, und Künste zu üben". Während vorher Schlesien nach Garve bezüglich seiner Bewohner einer Familie vergleichbar war, "welche, ohne viel von sich reden zu machen, ohne durch glänzenden Aufwand, oder durch außer­ordentliche Thaten und Geisteswerke die Augen der Welt auf sich zu ziehn, sich in der Stille zugleich bereichert und verfeinert", tritt es nun nach der Reformation in eine be­sonders glückliche Epoche seiner Geschichte. Garve berichtet: "in dem Jahrhunderte der Reformation sehen wir Schlesien, und Breslau insbesondre, schnell an Geistesbildung zu­nehmen. Und am Ende desselben behauptet jenes unter den Provinzen -, dieses unter den Städten Deutschlands, in Absicht der Gelehrsamkeit, einen vorzüglichen Rang. Unsre Schulen gehören unter die berühmtesten..." Da nun Schlesien auch im Dreißigjährigen Krieg seine Religionsfreiheit wenigstens nicht ganz verlor, behielt es seine Bedeutung über das siebzehnte Jahrhundert bei und konnte sie sogar noch erweitern. "Dies war", stellt Garve fest, "ohne Zweifel die wahre Ursache, warum sich unsre Provinz, unter den übrigen Theilen der österreichischen Monarchie, so sehr hervorthat: daß sie zuletzt ein Kleinod in der Krone derselben, und ein Gut wurde, dessen Verlust, oder Besitz ein gro­ßes Gewicht in die politische Wagschale legte"

Der Lage des Landes in einem Winkel Deutschlands, entfernt von den Zentren der Macht, verdanken die Schlesier auch eine Eigenschaft, die Garve zu bescheiden ist, um sie ohne Umschweife für seine Landsleute in Anspruch zu nehmen, weil sie Moralität zum Inhalt hat: die Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit. Er drückt sich daher in seiner Abhand­lung über die Vaterlandsliebe

Siehe in Abhandlung über die Vaterlandsliebe aus dem II. Band seiner "Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben", Breslau 1796 S. 216 oben. Die Heimatliebe der Schlesier, als eine Eigenschaft, die ihnen vielleicht stärker als manchen anderen deutschen Stämmen zukommt, wurde in dem vorliegenden Auf­satz bewußt außer Acht gelassen. Ihre Grundlagen wären ein Thema für sich, obwohl sie zum Teil im Charakter liegen und also auch auf das hier Gesagte zurückführen. Einige Reflexionen Garves darüber sind in der angeführten Einleitung zu "Leistung und Schicksal" mitgeteilt.

so aus, daß er den Schlesiern wünscht, sie urteilten richtig, wenn sie sich "von jeher den Charakter der Treuherzigkeit und Aufrichtigkeit" zu­schreiben. Wenn man diese Richtigkeit einmal unterstellt, so wird man eine Erklärung für jene Eigenschaft in der angedeuteten Weise geben können. Wenn es auch nicht allge­mein richtig ist, daß Politik den Charakter verdirbt, so ist doch in diesem schädlichen Urteil ein wahrer Kern enthalten. Denn eine große Versuchung stellen Macht und Einfluß. die das Ergebnis erfolgreicher politischer Tätigkeit sind, für den Menschen immer dar. Die Politik setzt also starke Charaktere voraus. Lebt man dagegen fern vom Schauplatz der Machtkämpfe der großen Welt, so bedarf es geringerer Tugend, um Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit zu bewahren. Auch die Bescheidenheit hat ja, wie wir schon sahen, in der Abgeschiedenheit die besten Wachstumsvoraussetzungen.

Und noch eine Eigenschaft, wenn sie Garve auch weder direkt noch indirekt ausdrück­lich den Schlesiern zuschreibt, muß uns hier beschäftigen, weil gerade Garve mit der Ana­lyse dieser Tugend ein moralphilosophisches Meisterstück

"Ueber die Geduld" in: Christian Garve, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, 1. Bd., Breslau 1792, S. 3-116.

vollbracht hat. Ich spreche von der Geduld. Soweit es sich bei der Geduld, die Garve als "die Zufriedenheit... mit­ten im Zustande des Leidens" bestimmt, um eine moralische Qualität handelt, wollen wir sie hier weniger geltend machen. Aber unser Philosoph weiß gerade die natürliche Komponente von der moralischen mit der Radiernadel des Scharfsinns zu trennen. Bei dieser Bemühung weist er auf die Erleichterung hin, die der ruhige Charakter bei der Be­strebung um Geduld gewährt. Und diese etwas phlegmatische Temperamentskomponente der Geduld scheint mir der Schlesier durch seine provinzielle Lage und sein konfessions­politisches Schicksal (an dessen Stelle im neunzehnten Jahrhundert in gewissen Gegen­den noch ein hartes soziales Los trat) stärker ausgebildet zu haben als manche anderen Deutschen. Ich bin sicher, daß Garve in etwa so geurteilt hat, denn bei der Beschreibung des ruhigen Charakters sagt er: "In der That sieht man oft stille, zurückhaltende, und sogar blöde scheinende Menschen, bey Krankheiten und in schweren Unfällen muthig werden, und einen Charakter der Standhaftigkeit annehmen..." Wer dächte hier nicht an Garves Bemerkungen über die Langsamkeit und Blödigkeit der Schlesier im Vergleich zu den militärisch ausgebildeten Brandenburgern, die wir oben zitiert haben. So wird er auch die hier seine Darlegung stützenden Beobachtungen in schlesischer Umgebung ge­macht haben. Und daß der zeitlebens kränkliche Garve selber als ein Muster der Geduld von seinen Zeitgenossen angesehen wurde, mag das "Garve" überschriebene Xenion der großen Dichterfreunde in Weimar bezeugen:

"Hör ich über Geduld dich, edler Leidender, reden,

                        0 wie wird mir das Volk frömmelnder Schwätzer verhaßt ."

Artemis-Goethe-Gedenkausgabe, hrsg. von Ernst Beutler, Bd. 2, Zürich 1953, S. 463.

       Vor allem Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, Geduld und Freundlichkeit machen die Liebenswürdigkeit des Menschen im geselligen Verhältnis aus. Und mit dieser Liebens­würdigkeit dürften wir das schönste Bukett von Charaktereigenschaften der Schlesier zusammengetragen haben, für das in seiner Gesamtheit ja unser Gewährsmann Garve selber auch ein hervorstechendes Beispiel abgibt.

Schwächen und Stärken des schlesischen Charakters wurzeln also in Folgen der geographischen und historischen Abgelegenheit des Landes. Und wenn man zu den Stär­ken auch die reiche Fülle von Talenten rechnet, die unter den Bewohnern Schlesiens auf­geblüht sind, so möchte man von den Schlesiern sagen, was Goethe in seinem Tasso eine kluge Frau über diesen einsamkeitsliebenden Dichter sagen läßt:

                     "Es bildet ein Talent sich in der Stille,

                     Sich ein Charakter in dem Strom der Welt."

Denn es hängt gewiß auch mit der vergleichsweisen Stille zusammen, die dem schlesischen so viele Jahrhunderte beschieden war, daß die ausgeprägten großen Charak­tere unter Schlesiern seltener sind als z. B. unter den Brandenburgern, den Engländern Römern des Altertums. Gewiß gilt dieser Mangel nicht mehr so sehr in unserer Zeit wie vor zwei Jahrhunderten, als Garve seine Landsleute beobachten konnte. Schon Er sah die Schlesier zu ihrem Vorteil Glieder der preußischen Familie werden, und die weitere preußische Zeit hat diese Entwicklung noch verstärkt. Vor allem auch haben die Oberschlesier, soweit sie überwiegend polnischer Abstammung waren,

Wie eingangs belegt, war für Garve dieser Unterschied der Mehrzahl der Oberschlesier von den Niederschlesiern am auffallendsten. Gerade unter dem Bauernstand fand er diesen Unterschied so groß. Daher sagt er in seiner Abhandlung über den Charakter der Bauern: "Selbst in unserm Schlesien, wer sieht nicht allenthalben Sittlichkeit, Fleiß und Wohl­stand mit dem Grade der Kenntniß und der Güte der Erziehung, im Verhältnisse. Wer wünscht nicht, es sey bloß als Einwohner, oder als Eigenthümer, lieber in einem unserer Gebirgs-Dörfer, als unter den Oberschlesischen Leibeigenen zu leben." (A. a. 0., S. 210)

in den letzten Jahren eine Entwicklung durchgemacht, die sie ihren vorwiegend deutschstämmigen Landsleuten immer ähnlicher werden ließ. So waren sie vor allem durch die stürmische Industrialisierung eines Teiles ihrer Heimat im neunzehnten Jahrhundert nicht nur für den Staat interessant geworden, sondern haben auch eindrucksvoll diese Gelegenheit ergriffen, Fleiß und Ordnungsliebe zu beweisen, die den Deutschen als Na­tionaleigenschaften zugeschrieben werden.

Sollte diese Angleichung der beiden ursprünglich stark unterschiedenen Bevölkerungs­gruppen des schlesischen Landes nicht als Beispiel dafür angesehen werden können, daß die Völker fähig sind, einander ähnlicher zu werden und dadurch sich immer näher zu kommen? Die Entwicklung der Menschheit muß schließlich in diese Richtung gehen, wenn sie segensreich sein soll. Das hat niemand klarer gesehen als unser Breslauer Weltweise und Weltbürger, der in seinem Cicero sagt: "Es giebt einen Stolz, der auf Absonderung ge­gründet ist, das ist der falsche!... Man dünkt sich besser als andre, weil man ihnen unähnlich ist, ohne zu untersuchen, ob die Verschiedenheit uns wirklich erhöht. - Der Nationalstolz von dieser Art muß wegfallen, je länger die Menschen die Erde bewohnen, und je besser sie werden. . . . Es giebt nämlich einen andern Stolz, der ist darauf gegründet, daß man in Sachen welche allen gemein sind, etwas vorzügliches habe; - da allen Menschen Verstand wesentlich ist, daß man einen größern besitze; - da alle wenigstens etwas gutes thun, daß man mehr und größre Sachen thue. ... Der Ehrgeiz der Nationen, wenn er auf diese Seite gerichtet ist, kan zwar Eifersucht unter ihnen veranlassen, aber er kan doch niemals in wirklichen Haß ausschlagen..."

Hat es nicht bei allem gegenwärtigen Irrtum, Unrecht und Elend in Mittel- und Ost­europa etwas Tröstliches, wenn man erkennt, daß die Schlesier untereinander vor ihrer Vertreibung einen Weg schon fast bis ans Ende gegangen waren, der uns allen auf diesem Erdball gewiesen und den Völkern Europas nun endlich sichtbar vorgezeichnet ist?