Hallo liebe Listemitglieder,
ich habe folgenden Zeitungsartikel entdeckt:
Warum der Direktor manche Akten des Geheimen Staatsarchivs nicht an Polen
geben will
Preussen war schon kein Koenigtum mehr, als es sich zuletzt noch in
Unkosten
stuerzte, um seine Archivalien nobel zu behausen. Der Dahlemer Neubau birgt
heute das "Geheime Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz", Zentrum der
brandenburg-preussischen Ueberlieferung bis ins 12. Jahrhundert. Zu den
Sammlungen, die dort den Krieg ueberstanden haben, sind die gefluechteten
Hinterlassenschaften aus Ostpreussen, Schlesien und Pommern dazugekommen
und die
Merseburger Teile aus der DDR-Verhaftung zurueckgekehrt. Zum ersten Mal
seit
1945 werden jetzt Teile des Bestandes grundsaetzlich angefochten.
Beweggrund ist
Polens Wendung nach Westen. Auf das staatlich verordnete Preussen-Tabu der
Volksrepublik folgt das Interesse an der verschuetteten Geschichte, das
sich
gegenueber der deutschen Seite als Anspruch auf die Schriftgueter der
preussischen Provinzen manifestiert: Ihr Zuhause sei dort, wo sie
herstammen.
Der Direktor des Hauses hat bei seinem Amtsantritt vor vier Jahren
zunaechst
fuer den Wegweiser gesorgt, der die Orientierung im Innern konsequent
aufschliesst. Niemand soll sich mehr totsuchen muessen. Juergen
Kloosterhuis
schlichtet damit das Ordnungsproblem, das im Berliner Stadtschloss erstmals
vom
Kurfuersten Joachim Friedrich ins Auge gefasst worden ist. Dieser Herr
hatte
seine Regierung gewissermassen illegal angetreten, da die Akten nicht
auffindbar
waren, die er brauchte, um das fatale Erbteilungs-Testament seines Vaters
zu
annullieren. Auch der Sekretaer, den er mit der Lueftung des Durcheinanders
betraute, kam den verschwundenen Unterlagen nicht auf die Spur, aber nutzte
die
Gelegenheit zum Ordnungmachen. Sein Bestandsprotokoll wurde zur Grundlage
fuer
die spaeteren Etappen der Materialbaendigung.
Das Ringen um die endgueltige Struktur dauerte vierhundert Jahre. Auf
dem
Symposion in Dahlem, das 1998 in Erinnerung an den Pionier von 1598
stattfand,
wurde sie praesentiert: "Die Tektonik des Geheimen Staatsarchivs
Preussischer
Kulturbesitz", eine Uebersicht von acht Druckseiten zur Erfassung der
Dokumentstrecke von 35 Kilometern. Das Geruest stellt eine abschliessende
Ordnung dar, insofern der Staat, dessen Geschichte es kapitelweise
betitelt,
seit seiner Aufloesung im Februar 1947 kein eigenes Material mehr
produziert,
bis auf den Beitrag des Nachlassverwalters, der "Stiftung Preussischer
Kulturbesitz" (SPK), der das Archiv (GStA PK) angeschlossen ist.
Die Transparenz, zu der es unter seiner derzeitigen Direktion gelangt,
bedeutet auch einen Mentalitaetswandel. Die Einrichtung verabschiedet ihren
geheimen Charakter, der nicht nur den Namen markiert, sondern annaehernd
bis
gestern auch das Innere gepraegt hat. Noch der vierbaendige
Bestandskatalog, der
1934/36 erschienen ist, setzte zu seiner Durchdringung den Spezialisten
voraus.
Fuer den Aussenseiter ist das Werk ein Buch mit sieben Siegeln. Dagegen
liest
sich die Archivgeschichte, die am Anfang des 19. Jahrhunderts ohne
institutionellen Auftrag verfasst und veroeffentlicht wurde, wie ein
Stoffsammlung im Geist Hoffmanns oder Melvilles. Ihr Autor, ein frueh
ertaubter,
arbeitsloser Pfarrer, wurde im Archivdienst, dem er ohne Sold assistierte,
zum
Dokumentenfreak und Aktennarr, bis ihn seine Passion verdaechtig machte und
er
auch dort das Feld raeumen musste: Carl Wilhelm Cosmar, Provokateur.
In seiner Darstellung ist das kurfuerstliche und spaeter koeniglich
-preussische Geheime Staats- und Kabinettsarchiv eine Frustrationsanstalt,
"der
wahre Karzer", den ein paar Auserwaehlte als Pfruende genutzt, aber die
wenigstens als Herzkammer des Verwaltungskoerpers geachtet haben. Die
meisten
wurden hier verschlissen, um ihre Hoffnungen betrogen und im Alter der
Armut
ueberlassen, wenn man dem Sittenbild glauben darf. Das Leidwesen
resultierte
offenbar aus dem Zwiespalt zwischen der unterprivilegierten Stellung des
Dokumentenwesens und der Brisanz des Materials. Zum Innenleben gehoerte,
dass
die Akten von Stockflecken und Maeusen zerfressen wurden, die Verweser
ihren
Lohn durch Nebentaetigkeiten aufbesserten und die Gehilfen, bevorzugt
Invaliden,
die auf den Leitern balancierten, nicht gegen Hals- und Beinbruch
versichert
waren. Der respektlose Umgang mit dem Hort wird den Benutzern angelastet,
hoch-
und hoechstgestellten Personen, bei denen die ausgeliehenen Sachen
verkamen. Die
Verlustraten waren betraechtlich und die Fluechtungen bei Berlins haeufiger
Kriegsbedrohtheit unvermeidlich. Nach welchen Kriterien das
Leitungspersonal ausgesucht wurde, bleibt offen. Es sollte studiert, aber
nicht
ambitioniert sein, vermoegend genug, um sich selber zu finanzieren, und arm
genug, um den Dienst zu tun, mehrsprachig und stumm, ein Orden, abgesondern
von
der Welt, zumal vom Fremdenverkehr.
Trotzdem setzte sich das Bewusstsein durch, das die Anstalt ueber den
subalternen Status des Dienstleisters erhob. Es war schon unter dem Grossen
Kurfuersten vorhanden, der entwendete und entfremdete Schriftstuecke in die
Sammlung zurueckholte, und schritt bis zum Hausbau 1924 fort. Errichtet
wurde an
der U-Bahn nach Dahlem ein schlosshafter Komplex mit dem Haupttrakt und
Ehrenhof
zwischen den Seitenfluegeln, dem Preussenadler im Frontgiebel und dem Namen
"Preussisches Geheimes Staatsarchiv".
Als die Institution ihr Symposion in eigener Sache durchfuehrte,
spendierte
ihr Norbert Zimmermann, der interimistisch der Stiftung vorstand, zwei
Definitionen zur Auswahl: "Das Archiv verkoerpert in besonderer Weise das
Preussische der Stiftung" oder "Es verkoerpert in besonderer Weise die
Elemente
einer partiellen Erbfolgereglung im Stiftungsgesetz." Preussens
Repraesentant
stellte auf dem Forum seine Massnahme vor, wie man sich aus dem
verschlungenen
System der Findbuecher zu einer einheitlichen Erschliessung aufschwingen
werde,
die den Zugang nicht mehr von einem internen Herrschaftswissen abhaengig
macht.
Dazu sagte Juergen Kloosterhuis: "Geheimes Staatsarchiv, Ministerialarchiv,
Hof-
und Hausarchiv und Heeresarchiv, Historisches Staatsarchiv Koenigsberg,
weitere
Territorialueberlieferungen und das Freimaurer-Schriftgut: dieses alles
gilt es
endlich in einer Tektonik zu vereinen, die von der Repositurenvielfalt zur
Archiveinheit fuehrt. Sie muss zu chronologisch-systematischen Loesungen
kommen,
die auf der inhaltlichen Seite die Geschicke des brandenburg-preussischen
Staatswesens in allen archivischen Facetten moeglichst plastisch spiegelt
und
auf der formalen Seite gleichartiges oder vergleichbares Archiv- und
Sammelgut
moeglichst konsequent zusammenfuehrt. Beide Aspekte dienen derselben Sache:
der
Transparenz des Archivs zum Nutzen der historisch interessierten
Oeffentlichkeit."
Der Archivdirektor wuenscht sich, dass zum sympathisierenden Publikum
auch
die Politiker zaehlen moechten, die mit der teils pragmatisch, teils
geschichtspolitisch begruendeten polnischen Forderung befasst sind. Er
wuerde
ihnen gern die Regale vorfuehren, auf denen das angesprochene Hab und Gut
steht,
und wuerde sie bitten, das eine oder andere Teil in die Hand zu nehmen, um
zu
merken, worum es geht: herzogliche Dokumente aus Pommern um 1550 oder
Stettiner
Akten von 1630, mittelalterliche Urkunden aus schlesischen und pommerschen
Kloestern, das Fuerstentum Sagan mit Bestaenden vom 17. bis ins 19.
Jahrhundert,
Tilsiter Materialien aus der napoleonischen Zeit oder das ostpreussische
NSDAP-Gauarchiv von 1934 bis 1943. Also dies und das und viel zu viel fuer
eine
Stippvisite.
Trotzdem wuerde der Hausherr seine Gaeste ersuchen, noch einen Blick auf
die
Bestandsgruppe "Preussenland" zu werfen, jene 1944/45 nach Westdeutschland
gefluechteten Gueter des ehemaligen Preussischen Staatsarchivs Koenigsberg
mit
den Ueberlieferungen der "Brueder vom Hause St. Mariens der Deutschen in
Jerusalem", des Deutschen Ordens: Urkunden von 1198 bis 1800, Ordensbriefe
von
1198 bis 1525 und Ordensfolianten von 1245 bis 1525. Zur Information wuerde
er
anmerken, man stehe hier vor der wertvollsten Sammlung des GStA PK, und
wuerde
hinzufuegen, Preussenland, Terra Prussiae oder Pruzinlant sei eine
Benennung,
die schon bei Peter von Dusburg und Nikolaus von Jeroschin vorkomme. Oder
er
wuerde fragen, ob Gebietsabtretungen folgerichtig die Ablieferung der
Geschichtsgueter nach sich ziehen. Oder ob es zugunsten aller besser sei,
den
Deutschen von heute das Erinnerungsgut dazulassen, damit ihnen ihr
historisches
Gedaechtnis nicht abhanden komme?
Der Frager ist entschlossen, die Abteilung
"Territorialueberlieferungen",
4,4 laufende Archivkilometer, in seinem Haus zu behalten. Die Ausnahme, die
er
macht, sind die kaiserlichen Urkunden, die der letzte Hochmeister des
Deutschen
Ordens und erste Herzog von Preussen 1525 seinem polnischen Lehensherrn
ueberantworten musste und der Grosse Kurfuerst 1660 beim Friedensschluss
von
Oliva nicht zurueckverlangte, obwohl Preussenland nun die Souveraenitaet
erlangt
hatte. Diese Zeugnisse wurden erst von den Nationalsozialisten repatriiert
und
gehoeren nach der Auffassung, der Juergen Kloosterhuis anhaengt, dorthin
zurueck, woher die Aggressoren sie geholt haben; also nach Polen.
Das Symposion von 1998 liegt gedruckt vor: "Archivarbeit fuer Preussen",
herausgegeben von Juergen Kloosterhuis, Selbstverlag des GStA PK, Berlin
2000.
Die Tektonik fuer den Archivbestand wird hier im Anhang vorgestellt.
Quelle: FAZ, 12.1.2001
Viele Gruesse
Reinhard Koperlik