Hallo in die Runde,
mein Vorfahr in Ostpreußen, Kreis Tilsit-Ragnit, war um 1870 mal 'Wirth',
mal 'Besitzer'.
Gehörte ihm das Land oder nicht? <<
Hallo Ursel,
hier kann ich ganz klar mit JA antworten. Die Pfarrer haben in alter
Gewohnheit einfach WIRTH geschrieben. Mit Besitzer ist hier gemeint, daß ihm das
Land wirklich gehört. Im Juristendeutsch wird zwar zwischen Besitz und Eigentum
unterschieden - das hat aber einen damaligen Pfarrer nicht interessiert.
Die Bezeichnung Wirth deutet an, daß Ihre Vorfahren auf diesem Besitz v o r
der Umwandlung durch die Preußische Landreform erbuntertänige Bauern waren,
also keine Eigentümer. Sie bekamen ursprünglich einmal vom Amtmann oder dem
adeligen Gutsbesitzer eine Hofstelle zugewiesen, bekamen den sogenannten
Besatz zur Verfügung gestellt, d.h. eine gewisse Erstausstattung an
Gerätschaften, Einrichtung, Saatgut und Vieh. Darüber wurde eine genaue Inventarliste
erstellt und im Falle einer Hofübergabe gab es Kontrollen, ob noch alles da ist.
In den meisten Fällen haben die Söhne oder auch Schwiegersöhne den Hof
weitergeführt. Es konnte jedoch auch passieren, daß der Bauer, wenn er nicht gut
wirtschaftete und sich aus eigenem Verschulden in Zahlungsunfähigkeit brachte,
vom Hof gewiesen und gegen einen besser wirtschaftenden Bewerber ausgetauscht
wurde. Im Falle, daß der Bauer ohne eigenes Verschulden (vielleicht durch
Mißernten, Blitzschlag oder dergleichen) in Not geriet, hatte er Anspruch auf
Hilfeleistung von Seiten seines Grundherrn (adeliger Gutsbesitzer oder
königlicher Amtmann). Sehr oft hatten erbuntertänige Bauern auch Anspruch auf eine
gewisse Menge Brennholz. Nach der Preußischen Landreform wurde dieser Anspruch
meistens mit der Überlassung des Besatzes, der Gebäude etc. verrechnet.
Oft wird die Preußische Landreform auch als "Bauernbefreiung" bezeichnet.
Ich finde den Begriff jedoch in diesem Zusammenhang unpassend. Hier wurde
niemand "befreit", sondern in eine größere Eigenverantwortlichkeit gestellt,
während der Staat sich aus althergebrachten Verantwortlichkeiten zum Zwecke eines
höheren Steueraufkommens zurückzog. Im Jahre 2006 hatte das "Geheime
Staatsarchiv" in Berlin zu dem Thema eine Ausstellung gemacht: "Staatsbankrott!
Bankrotter Staat? Finanzreform und gesellschaftlicher Wandel in Preußen nach 1806".
Grüße aus Berlin
Viktor