Seite 6 Endlich mit „Einzelfahrkarte“ Aus dem Lager Volkmarsen geht ein Ostpreußentransport ab
„Na Kurt, beeil Dir doch, immer zackerierst Du rum! Komm, pack dam Koffer an!“ Das war einer von den vielen Aussprüchen am Sonnabend, dem 13. August, die von irgendeiner besorgten mutter ausgestoßen wurde. Sie war ganz außer Puste vor Eifer und Besorgnis, das wenige der schon erworbenen Habe nicht mehr auf den schweren Lastwagen zu bekommen. Aber die Jungens sind ja so fleißig und geschickt beim Aufladen und Verstauen der Kasten und Koffer und der mit Leinen und Schnüren verbundenen Gepäckstücke. Eifrig wird im Lager Volkmarsen verladen. Es sind 64 Personen, die in die Gebiete Wiesbaden, Offenbach, Frankfurt, Hanau, Gelnhausen, Darmstadt und an die Bergstraße eingewiesen werden. Die Zurückbleibenden helfen, wo sie nur könngen. Auch sie erwarten den Tag ihrer Abreise mit Ungeduld. Denn zum ersten Male reisen sie nun mit Einzelfahrkarte. Und sie freuen sich darüber so sehr, weil sie nun hoffen, endlich ein kleines, aber eigenes Zuhause aufbauen zu können. Sie wollen so gern die Verantwortung für ihr Leben übernehmen, die ihnen bisher der lagerführer Meier als der Beauftragte der Regierung weitgehend abnahm. Überhaupt loben sie alle das Lager, auch die Grenzgänger, die nach der englischen Zone versandt werden. „Es ist hier alles prima in Ordnung“, das hört man immer wieder. Nun bleiben noch 66 im Lager, und sie sind in den großen Räumen recht verwaist. War man doch vier Jahre lang hinter dänischem Stacheldraht gemeinsam gefangengehalten und hatte alle Leiden und Entbehrungen gemeinsam ertragen. Das schweißt zusammen. Sie freuen sich alle, dass sie in eine landschaftlich so schöne Gegend kommen und sprechen mit leuchtenden Augen von der Zukunft. Natürlich haben sie am Sonntag noch zu wählen, das ist doch Ehrensache!
Dann ist der Sonntagabend da. Acht Personen bleiben außerdem in Volkmarsen. Sie haben hier eine Bleibe gefunden und fühlen sich wohl. Die andern füllen lärmvoll den Bahnhofsvorraum; man hat sich ja noch so viel zu wünschen und zu versprechen. Man wird richtig angesteckt von dieser fröhlichen Stimmung. Auf der Bank sitzt ein alter Invalide, der beim Helfen bei einem Bauern ein Bein brach; aber auch er ist stillvergnügt, dass es in die Freiheit geht. Denn es ist nun der erste selbständige Schritt, der getan wird, man muss das verstehen. „Wenn alle Behörden so nett zu uns sind, wie hier, dann wird es schon werden“, hört man immer wieder. Seit November war man hier in Volkmarsen zusammen und erlebte echte Hilfsbereitschaft. Die Frauen reden von der eigenen Küche, die Männer von der Arbeit, die sie zu finden hoffen, und manche kleine Träne kullert über die Kinderbäckchen beim Abschied von den Spielgefährten. Königsberger und Danziger Laute formen die Unterhaltung. Schnell ist der zug nach Kassel bestiegen. Die Jungen sind natürlich auf dem Bahnsteig, und der Schaffner drückt verständnisvoll ein Auge zu. Nach Tränen und tiefster Kümmernis fahren nun viel glücklichere Menschen in das Dunkel der warmen Sommernacht, beschwingt von Hoffnungen und Erwartungen, die sie an die brüderliche Schicksalsgemeinschaft Deutschland binden.
Seite 7 Bei uns zu Haus zu dieser Zeit. Heimatliche Gärten im September
Bei uns zu Haus, da wird jetzt die Luft so durchsichtig, so fein klar, wie sie nur in einem sonnigen ostpreußischen Herbst sein kann. Alles erscheint uns warm und goldglänzend: Stoppelfelder, tanzende Blätter, die letzten Kleereuter auf den Feldern mit dem kostbaren Winterfutter, der rotleuchtende herbstliche Mischwald. Wie blau ist der Himmel, wie silbern ziehen sich die Fäden des Altweibersommers von Busch zu Busch, wie glitzernd schlängelt sich der Fluß in Windungen durch das Land, wie feucht und frisch duften die Uferwiesen!
Wenn im September die Tomaten reiften und die Dahlien blühten, wenn die „Beerenschlacht“ um Saft und Marmelade fürs ganze Jahr vorbei war, hatten viele Hausfrauen den Wunsch, auch mal zu sehen, wie es in Nachbars Garten steht und ob man da nicht etwas zulernen könnte. Auch unser bäuerlicher Hausfrauenverein beschloss in jedem Jahr, die Gärten der Mitglieder zu begehen. Alle Gärten hatten mitten in der Woche ihr Sonntagskleid angezogen: Die Beete waren geweedet und die Wege geharkt.
Da war der solide, mit gut ausgebildetem Gemüse und bunten Sommerblumen bestandene, von alten Obstbäumen überschattete Garten der Gastwirtsfrau. Die rotbäckigen Hasenköpfe und die gelben Klaräpfel, die in unserer Gegend zuerst reiften, waren schon abgenommen. Orangefarbene Cakendula, blutroter und weißer Sommerphlox säumten die Wege. Daneben die lieben alten Großmutterblumen, von denen es im Liede heißt: „Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, die letzten roten Astern bring herbei.“ Dies war der Garten der alten Zeit. Mit Obstbäumen bestanden und mit dem in Ostpreußen so häufigen verschnittenen Lindengang eingefasst, lag er hinter dem Hause zwischen den Weiden, wo das schwarzbunte Herdbuchvieh un die edlen Fohlen mit unserem vertrauten Stutbuchbrand grasten.
Sehr viel moderner, ohne die Romantik der Großmüttergärten, mutete die Staudenrabatte der jungen Lehrersfrau an. Vor den bunt gemalten Beinenkästen im Hintergrund leuchteten als Schutz und Abschluss die rosa, rotvioletten und bläulich lila Herbstasternbüsche mit ihren winzigen, dicht aneinadersitzenden Blütchen, einzelne herb duftende Chrysanthemen, dazwischen die goldgelbe Flut der schönen Helenium autumnale. Überall der farbigen Pracht summten und schwärmten die Bienen in der weichen Sonnenwärme. Welche Mengen Honig haben unsere Lehrer in Ostpreußen erzeugt und in die Städte geschickt!
Dann wanderte der bunte Zug der Hausfrauen die Chaussee entlang zum Hause des Landjägermeisters. Es lag etwas erhöht; der kurze Aufgang bis zur Haustür war mit sorgfältig an hohe Bögen gebundenen späten Rosen bepflanzt, unter denen wir wie unter einem Baldachin dahin gingen. Die zweite Blüte war fast vorbei; die blutroten Blättchen wehten im leichten Septemberwind zu unseren Füßen auf den Weg, ihr reifer, schwerer Duft umgab uns. Die Landjägersfrau war die Gartenberaterin unseres kleinen Vereins.
Von der verblühten Rosenpracht zogen wir nun durch das Kirchdorf den Pfarrpächterstellen zu. Es waren kleine Anwesen, und die Menschen hatten es sehr schwer darauf. Und doch, wie viel Zeit und Liebe war auf das gleichmäßige Geflecht der kleinen Zäune verwandt worden, auf die selbstgezimmerten Gartenlauben, berankt mit Feuerbohnen und eingerichtet mit Bänken und fest in die Erde gerammten Tischchen. Rundherum die hohen, gelbleuchtenden Rudbeckienbüsche, die überall gedeihen, und die weißen Phloxe mit rotem Auge. Sie waren vor dem nützlichen, prosaischen Gemüse vor der Laube und dem schiefen, malerischen Strohdachhäuschen dahinter wie eine schöne Halskette, die ein schlichtes Kleid schmückt.
Zwei Ehepaare schienen aber nicht zu finden, dass es sich so schön und bequem genug wohne. In jahrelanger, rastloser Arbeit hatten sie neben der Pfarrlandstelle, welche sie ihren Söhnen überlassen hatten, jeder eine Siedlung erworben.
Eine der herrlichen, uralten Lindenalleen, an denen unsere Gegend so reich war, führte zum Hof, wo eine der beiden Familien in einer früheren Scheune Wohnung und Stallung eingebaut bekommen hatte. Trotzdem da nun vorher Pflaster und kein fruchtbarer Boden gewesen war, blühte nun schon ein Gärtchen, an die mächtige Feldsteinmauer der ursprünglichen Scheune gelehnt. Es enthielt alles, was der kleine Haushalt des alten Paares brauchte, mit Fleiß und Liebe geschaffen. Die milde Sonne beschien rote Tomaten, Löwenmäulchen und weiße Margueriten. Alles gedieh, und die freundliche alte Frau lächelte uns zu.
Liebe Frau Monien, wo bist du nun? Kaum bei einer unserer Sitzungen hast du gefehlt. Mir ist, als sähe ich über den Tisch herüber dein rosiges Gesicht mit den stillen Augen unter dem peinlich geraden, glatten Scheitel. Immer wach war dein ruhiges Interesse an unserer Arbeit füreinander im Verein. Wie hätte ich dir einen friedlichen, freundlichen Lebensabend mit deinem Mann zusammen gegönnt, in diesem Heim, das so schwer errungen war!
Wir gingen nun die Allee hinunter, auf deren beiden Seiten in geringem Abstand von den mächtigen Lindenkronen ganz neue weiße Häuschen errichtet waren, dahinter frischangelegte Gärten und Ackerland. Hier wohnte nun Pfarrpächter Müler mit seiner frischen, tatkräftigen Frau, beide hoch in den Sechzigern. „Mein Mann holt grade das Grummet, der kann nu leider nich hier sein“, sagt Frau Müller und führt uns fröhlich in dem kleinen Reich umher. Die jungen Obstbäumchen, sorgfältig an Stöcke gebunden, mit gegrabener Baumscheibe, haben schon einige Früchte angesetzt; ein paar Spillen sind sogar schon geerntet. Von den winzigen Johannisbeerbüschen hat jedes im ersten Jahr fast ein Pfund getragen. Dazwischen weidet schwänzchenschlagend eine junge weiße Ziege, und Hühner mit gesunden roten Kämmen streichen kopfnickend herum. An den hellen Hauswänden sind Fliederbäumchen gepflanzt, dazischen alle möglichen Sorten Dahlien. Wir sehen lachsfarbene und rosenrote großblumige, die guten alten mehrfarbigen Georginensorten, und rundliche Pompons mit den kunstvoll gefalteten Blütenblättchen, die schon in den Geschichten unserer Großmütter vorkommen. Über den sauber gehartken Aufgang zum Haus wehen von der Allee her die ersten welken Lindenblätter. Durch die knorrigen Stämme glitzert ferne im Talgrund der Pregel in der sinkenden Sonne. Rechts davon steigen im bläulichen Dunst die Türme von Königsberg am Abendhimmel auf, und die Glocken unserer alten Ordenskirche vor uns holen aus zum feierlichen Abendläuten.
O du schöne, du geliebte Heimat! Dein Bild soll lebendig bleiben in unseren Herzen! Denn in der Erinnerung an dich sind wir auch heute noch viel reicher als diejenigen, die eine solche Heimat nie besessen haben.
So ging der Nachmittag zu Ende. Langsam wanderten wir, von Frau Müller noch ein Stück begleitet, die Allee entlang, unseren Häusern zu. Wir fragen sie noch nach diesem und jenem aus ihrer kleinen, neuen Wirtschaft. Die einfache Schilderung ist wert, heute und hier festgehalten zu werden.
„Es war sehr schwer“, sagt sie in ihrer energischen, frischen Art. „Wir haben eben gearbeitet und gespart. Die Pfarrpächterstelle war ja man kleinchen, und da waren die Kinder! Neben der Wirtschaft habe ich für Lohn gesponnen und gewebt. So konnten wir jedes Jahr ein bisschen Inventar anschaffen und weglegen. Als es zum Siedeln kam, lag schon alles doppelt da. Wenn es manchmal gar zu langsam ging und die Tochter denn auch noch heiratete und eine Aussteuer brauchte, und dann immer noch was fehlte, ja, dann habe ich eben den lieben Gott ganz herzhaft gebeten, zu helfen, und dabei immer zu mir selbst gesagt: „Müller’sche Kopf hoch!“
Ja, wer etwas erreichen wollte, hatte es auch in guten Zeiten in unserem Grenzland nicht leicht. Und wenn uns heute Heimatlosigkeit und Weglosigkeit überwältigen wollen und es uns auch zu langsam geht, dann wollen wir an die Worte dieser tapferen ostpreußischen Frau denken und den lieben Gott bitten, zu helfen, zu uns selber aber sagen: „Müller’sche, Kopf hoch!“
Seite 8 Noch einmal sah ich Deutsch-Eylau. Von Georg Hoffmann
Am Vormittag des 22.08.1946 hatten wir eben die Stadt Osterode durchfahren und mit Entsetzen die ausgebrannte Innenstadt gesehen. Nun standen wir auf dem Güterbahnhof, etwa auf der Höhe von Grünortspitze, und warteten auf die Weiterfahrt. Jetzt war es schon ganz zicher, dass wir auch bei noch so großer Behinderung durch die Eingleisigkeit der Strecke meine Heimat Dt.-Eylau bei Tageslicht passieren würden. Und mein ganzes Denken richtete sich nur noch auf das Wiedersehen mit diesem von meiner ganzen Familie abgöttisch geliebten Ort. Wir fünf Geschwister hatten schon von früher Kindheit an immer wieder den Augenblick voll Dankbarkeit gepriesen, der meinen Vater vor der Jahrhundertwende ganz zufällig hier hat heimisch werden lassen. Und uns kamen Stadt und Umkreis auch dann immer noch als ganz außergewöhnlich und einzigartig schön vor, als wir längst andere Landschaften und Länder gesehen hatten.
Nun sollte ich in kurzer Zeit diese über alles, geliebte Heimat noch einmal sehen, und meine Erwartung war gar nicht zu beschreiben. Endlich zog die Maschine an, und hastig kletterten die letzten Kameraden in die Waggons. Wir alle genossen ja auf jeder Station möglichst ausgiebig die wiedergewonnene Freiheit, bei offenen Türen fahren und nach Belieben aus- und einsteigen zu dürfen. Die russischen Posten sahen bei dieser Entlassungsfahrt dem Gewimmel am Zuge gleichgültig zu. Wir fuhren am Drewenzsee entlang und querten bei Bergfriede die Drewenz. Steenkendorf wurde sichtbar, und dann kamen Frödenau und Raudnitz in Sicht. Die beiden letztgenannten Orte steckten für mich voller Kindheitserinnerungen, am meisten noch Raudnitz. Ich sah dort die Kirche, die Gutsgebäude, die Alleen. Die unter Naturschutz gestellten Schwarzpappeln standen noch an den Wegen. Rechts der Strecke huschte das Vorwerk Karlau vorbei, und der große Labenzsee tauchte hinter den Hügeln auf. Da es schon auf Neudorf zuging, musste jeden Augenblick die geliebte Stadt in der Ferne erscheinen. Ich war schon längst völlig außer mir, ich war wie im Delirium. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich mich nicht lieber ganz abwenden, mich in eine dunkle Ecke setzen und nichts mehr sehen? Sollte ich nicht womöglich dem Transport entweichen und hier zurückbleiben, um mich mit allen Fasern an dieses Stück Land zu klammern, auf Gedeih und Verderb, ohne Besinnen und ohne Rücksicht auf alle Folgen? Der Zug ratterte hstig weiter, und es blieb keine Zeit zu irgendeiner Entscheidung. Es nahm alles seinen Lauf: mich hatte nun ein unbändiges Verlangen gefasst, schnell und ganz nachdrücklich viel zu sehen und mit dem ganzen Herzen festzuhalten, fest und unauslöschlich bis zum letzten Atemzuge. Mein Geist rief alle Kräfte der Welt zu Hilfe, um alle Bilder, auch die trostlosesten und erschütterndsten, aufzunehmen und als Brandmal in die wunde Seele zu pressen.
Stadt, vor allem der stumpfe Klotz der alten Kirche. Mein Herz krampfte sich voll bittern, ganz bittern Schmerzes zusammen. Ich starrte hinüber, als träumte ich. War dieses alles tatsächlich eine Wahrheit, eine Wirklichkeit? Unsere Lage, unser Gefangensein, unsere Vertreibung, unsere Heimatlosigkeit, wie konnte das alles geschehen? Wir durchfuhren einen Hohlweg. Die schwarzgeräucherte, seit der Kinheit bekannte Holzbrücke eines Feldweges spannte sich über die Strecke. Das Signal gab die Einfahrt nicht frei, und wir hielten auf der Eylenzbrücke. Jetzt packte mich eine wahnsinnige Eile. Jetzt galt es schnell, schnell alles zu sehen und einzuprägen. Erst erblickte ich wieder die alte Kirche (Foto: da erschien der stumpfe Klotz der alten Kirche). Ihr Bild erschütterte mich bis in den letzten Winkel meiner Seele. In dieser Kirche bin ich getauft, konfirmiert und getraut worden, in ihr stand der Sarg meines Vaters. Und wie ein Selbstmörder, der sich tief hinabstürzt, in diesem Absturz in Sekundenschnelle sein ganzes Leben vor sich sehen soll, so sah ich auch das meinige und noch das von Tausenden von deutschen Familien in mehr als sechs Jahrhunderten in einer innigen, religiösen und durch das Geschehen so dramatischen Beziehung zu diesem Bauwerk stehen. Gruß und Gebet flogen zu der Kirche, die schon mehrmals in den Jahrhunderten nach Brand und Krieg ganz allein übriggeblieben ist, als sei sie erhaben über alle menschliche Unsicherheit. Auch die neue katholische Kirche war unversehrt. Sonst aber sah ich nicht viel Häuser, die noch ein Dach trugen. Die lange Bahnhofstraße schien restlos niedergebrannt. Die hohen Beamtenhäuser neben der Villa des Baumeisters Klein, dann gegenüber das Schefflersche Haus, das Haus Yorkstraße Nr. 1 und die Häuser hinter dem Proviantamt, auch dieses selbst, ach überhaupt alles, was ich von hier aus erblicken konnte, lag als zertrümmerte und ausgebrannte Ruine da. Und eine Ruine mit leeren Fensterhöhlen war auch das Haus mit der Wohnung meiner Schwiegereltern. Völlig hin war also das Dach, unter dem meine Frau ihre Kindheit verlebt hatte. Da dieses Haus einzeln gestanden hatte, konnte es nicht einer allgemeinen Feuersbrunst zum Opfer gefallen sein. Das Gleiche galt auch von dem Haus Osteroder Straße 3, jenem hohen Wohnhaus hinter der Eylenzschleuse, und vielen andern. Nun sah ich den Friedhof und suchte mit meinen Augen das Grab meines Vaters. Liebevoll umfasste ich diesen Winkel zwischen Hecken und Trauerbäumen, und fortan zuckte mein Auge hin und her. Es war dieses ein wehes Dreieck: Kirche-Friedhof-Bahnhofstraße, Kirche-Friedhof-Bahnhofstraße --- die Ruinen der Bahnhofstraße waren jetzt verschwunden, denn wir fuhren weiter, fuhren erst durch die niedrige Betonbrücke, dann durch die große Eisenbrücke. Bahnhofshotel und die gegenüberliegenden Bahnmeisterwohnungen waren natürlich eingeäschert. Die Erinnerungen jagten mich wie ein gehetztes Wild. Mein Bewusstsein war schmerzhaft gespalten: die Augen rafften das Sichtbare, und im Herzen stieg die Erinnerung unaufhörlich empor. Gegenwart und Vergangenheit drängten sich sinnverwirrend auf. Sie führten einen Kampf um den Vorrang. Auf der gleichen Leinwand flogen zwei verschiedene Filme vorüber. Ich lebte wie in einem hohen Fieber.
Das Bahnhofsgebäude stand, nur das Bahnpostamt war verbrannt. Auch das lange neue Bahnbeamtenhaus an dem einstigen Sanddurchstich zur Radommnoer Chaussee lag in Asche, kaum gewonnen, schon zerronnen. Sonderbarerweise war das hohe Übernachtungshaus neben dem Bahnhofsgebäude erhalten geblieben. Jetzt durchfuhren wir ganz langsam die Bahnsteige. Der Name Dt.-Eylau war in Ilawa abgeändert. Es fuhr gerade ein Personenzug ein, aus dem die polnischen Zivilisten höhnend herüberlachten. Und völlig fassungslos starrte ich das alles an. Die Erinnerungen stürmten hier wiederum ganz besonders stark auf mich ein. Die Abfahrten und Ankünfte auf diesem Bahnhof begrenzten in meinem Leben zum Teil sehr wichtige Abschnitte, und ich entsann mich im Augenblick auf dieses viele traurige und freudige, schmerzliche und glückliche Abfahren und Ankommen in den vielen zurückliegenden Jahren. Aber dieses gewiss mächtige Erinnern wurde jetzt ganz von durchaus gegenwärtigen Empfindungen beiseite geschoben. Dt.-Eylau war ganz zweifellos ein deutscher Bahnhof. Seit seiner Erbauung ist er nie etwas anderes gewesen. Dahinter lag eine deutsche Stadt. Seit ihrer Gründung vor über 600 Jahren ist sie nie etwas anderes gewesen. Hier haben 12 000 Menschen gelebt, niemals waren sie je etwas anderes als Deutsche. Und jetzt erdreisteten sich Fremde, hier so umzugehen, als seien sie irgendwie rechtmäßig darinnen! Ich wurde darüber so fassungslos, dass ich völlig den Boden unter den Füßen verlor. Erst tobte es furchtbar in mir, dann wurde ich grenzenlos traurig wie ein Irrer, der einen Anfall übersteht und plötzlich haltlos zu weinen beginnt. Ich saß die Zeit unseres Aufenthaltes auf der Schiene des nächsten Gleises und blickte unendlich müde und abgespannt zwischen zwei Waggons hindurch auf den Wasserturm der Stadt, diesen alten, runden Burschen mit dem blaugrauen spitzen Dach. Ich träumte von Spazierfahrten in der Kindheit an diesem vertrauten Gesellen vorüber, von seligsüßen Spaziergängen mit meinem Mädchen, das meine Frau geworden ist, und von sonderbaren Jünglinszeiten beim Kommiss mit Griffekloppen und Exerzieren dort auf dem kleinen Platz neben dem Turm. Wenn ich mich auf meiner Schiene einmal herumsetzte, so tauchte in der Ferne aus dem Dunst die Kernsdorfer Höhe auf, die ich immer für ein Wahrzeichen meiner Heimat genommen habe. Ich sah sie, wenn ich am Grabe meines Vaters stand, wenn wir in Schwalgendorf auf der Höhe des Dorfes das herrliche Bild der Heimat einsogen wie einen köstlichen Duft. So saß ich in meiner Vaterstadt Dt.-Eylau einige Stunden auf der Schiene und hatte großes Leid davon. Was nutzte mir die Entlassung aus der Gefangenschaft? Warum lebte ich überhaupt noch? Wer konnte mir soe einfach meine Heimat nehmen?
Der russische Posten stieß mich an. Ich hatte nicht gesehen, dass meine Kameraden wieder eingestiegen waren und dass es weitergehen sollte. Ganz verstört sprang ich in den Waggon. Und als der Wald, dieser Wald der Heimat, der Kindheit, des Glücks so grausam war, das letzte Bild meinem Auge zu entreißen, da betete ich, weil ich nicht mehr aus noch ein wusste. Die Räder ratterten immerzu: Kirche-Friedhof-Bahnhofstraße, Kirche-Friedhof-Bahnhofstraße.
Ganz im Westen des zerrissenen Vaterlandes warteten meine Frau und meine Kinder auf mich.