Wir Ostpreußen, Mai 1949, Folge 07

Mai

Folge 07 vom 01.05.1949

Seite 2 Vor vier Jahren: Der letzte Weg
Gedenken an die Endkämpfe in unserer Heimat. Mahnung an die Welt: Tötet den Hass!
Tage schmerzlichster Erinnerung durchleben in diesen Wochen alle ostpreußischen Landsleute. Vor vier Jahren gingen die Kämpfe um die letzten Teile unserer Heimat zu Ende. Zu nahe ist noch jedem das Geschehen, als dass wir hier die einzelnen Phasen erneut zu bezeichnen brauchten. Und wenn wir heute stumm und noch immer erschüttert daran zurückdenken, steigen wohl unbewusst die Umrisse des Tannenberg-Denkmals in uns auf. Das große Ringen aus dem Jahre 1914 wiederholte sich in noch blutigeren Formen im zweiten Weltkrieg und erlegte Ostpreußen diesmal das denkbar schwerste Schicksal auf. Und dennoch soll uns Tannenberg gerade heute kein Anruf zur Vergeltung, kein Appell an kriegerische Leidenschaften sein. Wir Ostpreußen sind nach alledem still, sehr still geworden und hören auf den Gang der Geschichte. Deutsche und russische Soldaten sind zweimal Seite an Seite gefallen und haben nebeneinander auf ostpreußischen Heldenfriedhöfen ewige Ruhstatt gefunden. Und unsere Brüder und Schwestern im deutschen Westen seien sich bewusst: Soldaten aller deutschen Stämme waren es, die Ende 1944 und Anfang 1945 ostpreußischen Boden gemeinsam verteidigten. Denkt an Eure toten Söhne, wenn wir heute Eure Gäste sein müssen! An die Welt aber richtet sich unsere tiefste Hoffnung: Dass Hunderttausende auf Ostpreußens heiliger Erde nicht umsonst gestorben sein mögen und den Völkern ein wahrhaftiger Friede werde!
Noch einmal soll die Zeit vor vier Jahren nun für uns Gegenwart und – Ausblick in die Zukunft werden! Wir geben einen Abschnitt aus dem in Vorbereitung befindlichen Buch von Walter Sperling: Danziger Glockenspiel, Raum:

Wie vor unserem Angesicht
Mond und Sterne schwinden!
Wenn des Schiffleins Ruder bricht,
Wo nun Rettung finden?

Es war mir vom Schicksal aufgegeben, in schweren, alles entscheidenden Stunden in unserem Heimatraum den bitteren Kelch zu leeren, den die Geschichte mit jenem tödlichen Stoff gefüllt hatte, der uns alle um den angestammten Lebensraum und damit um jegliches Lebensglück brachte, das einzig und allen – das wissen wir nun! - nur im Bereich der Muttersprache seine schönsten Blüten zu treiben vermag.

In jenen Tagen, gegen Ende April 1945, als ich angeschlagen, ein Heimatloser schon unter vielen Heimatlosen, die letzte Etappe eines traurigen Weges, von der zusammenbrechenden Samlandfront über die Frische Nehrung wanderte, fielen mir jene eingangs erwähnten Worte ein, die unser Danziger Johann Daniel Falk vor mehr als hundert Jahren schrieb und die nun eine furchtbare Gültigkeit erhalten hatten.

Das Schiff der Heimat war am Versinken
Darüber täuschte nicht das Licht der warmen Frühlingssonne hinweg, die dem Nehrungswald neues Leben einhauchte, die hohe Düne bei Narmeln aufleuchten ließ und den Haffnebel teilte. Kein Segel stand draußen. Der Strom der Gehetzten und Hoffnungslosen zog westwärts, unbeteiligt an dem wundersamen Geschehen der Jahreszeit, gleichsam ein Leichenzug, der alles zu Grabe trug, was im Gemüt gelebt und nun gestorben war.
Dieser Weg war ein Abschiednehmen, ein ununterbrochenes Erfassen von Bildern und deren Einordnung in den Raum der Erinnerung. Kahlberg, Pröbbernau, Vogelsang, Bodenwinkel! Abschied vom Haff, von der stillen röhrichtumsäumten Weite, von den verträumten Dörfern, über denen schon der Hauch des Todes, der Zerstörung lag! Mit jedem müden Schritt blieb etwas zurück, das größeren Wert hatte, als jeder andere Besitz. Wir sind heute bevorzugt, auch das zu wissen

Wie in alten guten Tagen bot sich Stutthof, breit hingelagert vor der Wand des Nehrungswaldes, in dem, unfassbar für uns! Noch aufgeforstet wurde. Es war, als wenn der Wahnsinn dieser Zeit keinen Halt finden wollte. Wer genauer hinsah, entdeckte die andere Seite, die Furcht in den verstreuten Hütten, die ratlosen Alten in ihren dürftigen Sandgärtchen. Es ging ein furchbares Ahnen mit dem endlosen Strom der Erschlafften, die das baldige Ende kündeten durch ihre Gegenwart.
Aber hier war es auch, wo sich die ersten Hände den Müden, ach so Sterbensmüden, entgegenstreckten auf ihrer trostlosen Wanderung, auf diesem kleinen Flecken Erde, einer umbrandeten Insel inmitten eines Ozeans der Zerstörung, und es tat gut, noch einmal das Band zu fühlen, das aus dem Wort Heimat seinen Ursprung findet.
Es ging nach Steegen, dessen spitzes Türmchen verstohlen aus dem Grün der Kiefern lugte, einladend wie ehedem, unverändert das Bild, wie es in der Erinnerung des ruhelosen Wanderers gelebt hatte. Aber inmitten dieses idyllischen Bildes zeigte sich bei näherem Betrachten die Unruhe der Zeit, die Unrast eines bevorstehenden Aufbruchs, seltsam anmutend an dieser Stätte, die wohl kaum jemals einen solchen Wirrwarr gesehen hatte; ein Durcheinander, wie es nur der vorwärtsdrängende Zwang eines geschlagenen Heerhaufens, einer auf Flucht befindlichen Bevölkerung hervorzurufen vermag. Und dieser unübersehbare Haufen zog zu dem großen Strom, der unbeteiligt seinen jahrtausendealten Weg zum Meer floss, zwischen den hohen Dämmen von Nickelswalde und Schiewenhorst. Aber wo einst die Lachsfischer auf Beute warteten mit ihren Kähnen, Fischerfrauen Aale anboten in friedlichen Zeiten, war nichts, als eben nur das breite Bett der Weichsel, die mit ihrer erschreckenden Leere schon die Grenze andeutete, den vielen Zehntausenden am diesseitigen Ufer.

Über der Gemarkung von Gottswalde, wo nun die schönen alten Vorlaubenhäuser wohl in Rauch aufgegangen waren, standen zur nächtlichen Stunde die Augen des Krieges, grünlich leuchtend, und über den Bohnsacker Wald zogen die Bogenbahnen der Geschosse. Das alles mahnte, dass hier etwas näher rückte, das längst über die gute, alte Stadt hinweggegangen war, die weit hinten im Nebel ihre Trümmer verbarg; das stolze Danzig, dessen Glockenspiele nun schon verstummt waren, deren Giebel geborsten zwischen zersprengten Beischlägen lagen, deren unermessliche Reichtümer und Schönheiten ein Raub der Flammen wurden. Ein unfassbarer Gedanke für mich, der hier noch einmal das erste, zarte Spiel des Heimatfrühlings erleben durfte, das Pfeifen der Amseln und Stare hörte, dem Flug der Möwen zuschaute und wahrnahm, dass die langen Reihen der Weiden sich zu schmücken begannen und die Erde nach neuem Leben duftete.

Im Morgengrauen eines dieser qualvollen Tage vollzog sich die Trennung von der Erde, die uns allen so viel bedeutet. In langer Reihe schlichen marineboote ins offene Meer hinaus, tauchten ein im Nebel, der sich gnadenvoll zwischen das zurückbleibende Bild schob; Plehnendorf, Heubude, Neufahrwasser den suchenden Augen entzog, so dass nur ein bitteres Ahnen übrig blieb von dem furchtbaren Geschehnis, das hinter dem stillen, weiten Strand über die geliebte Heimat gekommen war.

Es war dies ein Weg in eine zweifelhafte Freiheit, vergleichbar in seinen vielen Weiterungen mit seiner Passion, die sich auf Höhepunkten der Entsagungen und Demütigungen bewegte und wohl bei vielen den Begriff Vaterland legendär empfinden lässt. So bleibt denn nichts anderes für die Lebenden, als die Erinnerung, von der sie zehren müssen, um bestehen zu können in der Fremde, und es ist gut, dann und wann seine Herzkammern zu öffnen, die Bilder der Heimat – hervorzuholen und zu betrachten – soweit sie nicht verloren gegangen sind in Zeiten, da es einer pfleglichen Behandlung nicht bedurfte; es ist gut, vertraute Gesicher zu sehen, in Mundart zu denken, alles mit geschlossenen Augen zu erfühlen, was zurückblieb von dem, was kein Krieg zerstören konnte: das von Alter verklärte und doch immer jugendschöne Gesicht des Landes an der Mündung des großen Stromes, der aus den Karpathen kommt.

Es ist gut, in Gedanken die Wege zu wandern, die heute ausgelöscht sind von einer rauen Hand.

St. Marien ist geborsten. Der Stumpf des schlanken Ratsturmes ragt aus Trümmerhaufen, unter denen die Glocken zerschlagen liegen, die einst unseren Schlaf einspielten. Die Ziegel, einst gebrannt in Brentau oder an der lehmigen Haffküste, liegen in wirrem Durcheinander in den aufgerissenen Gassen. Das Krantor, die Speicher, die stolzen Patrizierhäuser, der Artushof, das Zeughaus und vieles andere sind in Schutt und Asche gesunken. Unwiederbringlich! Der Rauch des Todes würde auch nicht weichen, wenn etwas Neues erstände.

Die Toten haben es gut, Freunde, die Gebliebenen, die nichts mehr wissen von allem. Es ist ungleich schwerer für die Lebenden, das Gegebene zu tragen.
Und es ist nun billig, sich zu verzehren, zu hadern und Anklage zu erheben – aber nicht gut. Denn aus allem diesen wächst der Hass; neuer Hass, der keine Wunden zu heilen vermag. Hass ist eine Hydra! Nur der Hass erlaubt nach Schuldigen zu suchen.
Es ist so leicht, Freunde, zu sagen: Du und du, und Ihr und Ihr habt Anteil an diesem Unglück! Es ist so leicht, sich außerhalb zu stellen und den Anteil zu vereinen, der schon im Kleinsten irgendwo und irgendwann seinen Anfang nahm – und sei es nur in gedankenloser Ausschöpfung des Lebens.

Tötet den Hass, und ihr werdet den Frieden haben; Ihr werdet erkennen, dass über allen menschlichen Irrtümern Mächte stehen, die diese Irrtümer lenken nach gültigen Gesetzen vom Werden und Vergehen. Und in diesem Frieden weidet ihr bestehen, Freunde, wo ihr auch seid, und das ach so kurze Leben hinnehmen als Episode, deren schmerzlicher Höhepunkt hinter euch liegt.
Es ist dabei tröstlich zu wissen, dass nicht alles von der Bildfläche verschwunden ist, dem wir nachtrauern, dass nach wie vor der große Strom das gute, alte Land durchschneidet, dass das Meer auch jetzt noch gelben Bernstein an den Strand spült in unserer zurückgelassenen Heimat, dass immer wieder die Weiden in der Niederung neue Schöße ansetzen und immer noch Krähenschwärme in den Nehrungswald einfallen. Auch die Störche kommen in jedem Frühling, nach wie vor! Und klappern auf ihren angestammten Nestern.
Es ist nicht alles tot und in Dunkel gehüllt.

Seite 4 Und wieder sehen wir die Heimat. Eine kleine Stadt im früheren Ostpreußen.
Bericht einer französischen Zeitung über die Verhältnisse in Heiligenbeil. Steppenvölker zogen ein.
Unter der Überschrift „Wie es heute in Heiligenbeil aussieht“ bringt die angesehene französische Kulturelle Zeitschrift „La vie intellectuelle“ in ihrer diesjährigen Januarnummer auf zwölf Seiten einen ausführlichen Bericht über das Leben in der früheren ostpreußischen Kreisstadt Heiligenbeil nach der Besetzung durch die Russen. Der Verfasser wird nicht namentlich genannt, hat aber unbestreitbar scharf beobachtet und überhall hin Zutritt gehabt.

Durch das Potsdamer Abkommen wurde Heiligenbeil Grenzstadt; das nur 12 Kilometer weiter südwestlich liegende Braunsberg gehört jetzt zu Polsen.

Die Zivilverwaltung leitet ein junger russischer Bürgermeister. Die NKWD ist aktiv und gefürchtet. Hartherzige Mongolen bilden die Grenzwache gegen die ponische Grenze zu. Die Besatzung bzw. Garnison besteht aus Marinefliegern, die aus Leningrad hierher gekommen sind. Eine deutsche Verwaltung hat noch bis zum Februar 1946 unter einem deutschen Bürgermeister bestanden, der unter Aufsicht eines russischen Kommandanten gearbeitet hat.

Die neue Bevölkerung rückte in Bahntransporten im Herbst 1946 an. Tartaren, Tschuwaschen und Modwaren, die teilweise nicht einmal die russische Sprache beherrschen, bewohnen jetzt die alte Jarfstadt. Wohnen ist zuviel gesagt für die Art, wie diese Kulaken in den wenigen unzerstörten Häusern vegetieren. Als „Neuschöpfung“ wurde in allen Wohnungen ein Ziegelofen in etwa 1,30 Meter Höhe erbaut, der gut vier Quadratmeter Fläche hat, die für drei bis vier Personen als Schlafstätte dient. Kleinere Zimmer sind einfach als Stallräume für Groß- und Kleinvieh eingerichtet. Gestank und Jauche bedeuten keine Störung des Allgemeinbefindens.

Gegen die Deutschen haben sich diese primitiven Naturvölker menschlich gezeigt. Sie gaben den bei ihnen arbeienden Leuten reichlich von ihrem bescheidenen Essen, das täglich aus einer Suppe besteht, ab und versorgten sie auch mit Milch. Das half viel, denn eine Hungersnot hatte dort geherrscht. Bis zum Sommer 1946, teilweise bis in den Winter hinein, hatten die Deutschen noch Kartoffeln, dann setzte die Not ein. Durch Verkauf aller nur entbehrlichen Sachen, ja auch der Kleider, versuchte man etwas Geld zum Kauf des verteuerten Brotes zu bekommen. Im Allgemeinen waren außer dem wenigen Brot nur Kartoffeln, stückweise, erhältlich. Lebensmittelkarten erhielten nur die Leute, die auch arbeiteten. Greise, Kranke und Kinder hatten keinen Anspruch darauf!

Anfang des Jahres 1947 wurde eine Schule für deutsche Kinder in den Räumen der früheren Oberschule eingerichtet. Die drei deutschen Lehrerinnen hatten eine Ausbildung von sechs Wochen hinter sich. Der Besuch dieser Schule war, mitbedingt auch durch die fehlende Ernährung und Bekleidung der Kinder, sehr schwach. Eine besondere Schule wurde für Kinder russischer Offiziere eingerichtet, eine weitere für die Kinder der Kulaken, denen ein Deutschlandhass eingepaukt wurde. Bei den Alten waren noch Spuren religiösen Lebens bemerkbar; in fast jedem Haus befand sich eine Ecke, die mit Ikonen (Bildern russisch-katholischer Heiliger) geschmückt war. Kruzifixe und Kreuzwegbilder aus der katholischen Kirche wurden von den Kolchosebauern in ihre Behausungen mitgenommen. Einige ihrer in Heiligenbeil geborenen Kinder wurden getauft.

Vorstehender Auszug (in freier Übersetzung) ist nicht nur für die ehemaligen Heiligenbeiler von Interesse. Wichtiger erscheint die Tatsache, dass eine Zeitschrift von internationalem Rufe, wie es „La vie intellectuelle“ ist, eine so ausführliche Schilderung gebracht hat, die hoffentlich auch in der weiten Welt die verdiente Beachtung findet!

Seite 4 Das heutige Memel: Russisches Leben im Zwielicht. Schilderung eines aus russischer Gefangenschaft Heimgekehrten. Überall völlige Lustlosigkeit.
Als am 3. und 4. Februar 1945 der Brückenkopf Memel geräumt wurde, um die Truppen für die Verteidigung Königsbergs freizubekommen, blieb eine vollkommen menschenleere Stadt zurück. So ist es möglich geworden, dass Memel heute eine Stadt mit rein russischer Bevölkerung ist. Einige Zurückgewanderte aus dem umligenden, teil litauischen Memelgebiet, zählen nicht, denn sie kamen erst später, als das heutige russische Gesicht Memels schon fertig war.
Ich habe viele ehemals deutsche Städte besucht, denn ich war Redakteur der Kriegsgefangenenlagerzeitung und konnte mich ziemlich frei bewegen, um Berichte zu sammeln. In allen Städten konnte man bald das Wirken der zurückgebliebenen deutschen Menschen an den sich zu Häuschen formenden Trümmern merken, nur nicht in Memel. Dabei hat Memel noch erstaunlich viel unzerstörte Häuser, die leer und ausgeraubt dastanden und auf neues Leben warteten.
Das neue Leben kam. Dampfer auf Dampfer, oft auch Kriegsschiffe aller Größen, brachten die neuen Bewohner Memels aus allen Teilen der Sowjetunion, um den Hafen wieder in Betrieb zu setzen.
Mit Staunen sah ich zum ersten Male russische Zivilisten. Alle, Männer, Frauen und Kinder, fielen durch ihre Eleganz auf, die zwar durch den Abstand, die ein armer Kriegsgefangener nach den Leiden des Krieges und der Gefangenschaft von wirklicher Eleganz hatte, natürlich nur relativ war, aber zu der Vorstellung, die wir von russischen Arbeitern nach Erzählen und Erleben hatten, nicht passen wollte. Tadellose neue Anzüge bei den Männern, lichtfrohe Kleider der Frauen, und die Kinder konnte man sich ebenso gut auf einem Spaziergang am Sonntagnachmittag im Zoo vorstellen. Auffallend waren die tadellos frisierten, unnatürlich blonden Haare der meisten Frauen. Ich sah feuerrote Lippen und rotlackierte Fingernägel an schäbigen Koffergriffen. Mein Staunen wuchs. War das Russland?
Dann begleitete ich eine Familie, die in ein neues Heim zog, das aus einer leeren Stube und Küche bestand. Ich konnte mich durch das Besorgen von Stroh zum Lager bei dem Mann nützlich machen. Die Frau suchte nach alten Konservenbüchsen zum Kochen des ersten Tees. Inzwischen schleppten die Kinder aus naheliegenden Trümmern Ziegel und Bretter herbei, um tisch- und bankähnliche Gebilde zu bauen.
Am nächsten Tag war die Wohnung schon wesentlich gemütlicher, denn man hatte alte Zeitungen zu Scheibengardinen geformt. Dabei blieb es. Eine Woche später komme ich wieder vorbei, die Scheibengardinen aus Zeitungspapier waren noch da. Arme Frau, dachte ich, wie muss es dir schwer fallen, einige Fetzen Gardinenstoffe aufzutreiben. Denn, dass sie sie suchte, war damals für mich zweifellos. Nach vier Wochen waren noch die gleichen Scheibengardinen an den Fenstern, nur inzwischen vergilbt und beschmutzt und zerrissen. Ich dachte nicht mehr, arme Frau, sondern etwas ganz anderes.
Ein Besuch nach zwei Monaten belehrte mich, dass das Mobiliar sich nicht bereichert hatt. Es lag die Strohschütte in der Ecke, auch die Bank und der Tisch waren die gleichen, dafür lagen Konservenbüchsen umher. Auch nach einem Jahr fand ich alles noch unverändert. Was hätte in dieser Zeit ein deutsches Ehepaar selbst mit primitiven Mitteln an Gemütlichkeit geschaffen?
Wie schon gesagt, kamen die neuen Bewohner Memels aus allen Teilen der Sowjetunion. Da waren Mongolen, Kaukasier und Sibirier. Alle suchte ich auf, denn ich wollte den Kommunismus kennenlernen. Bei allen fand ich das gleiche Bild. Überall die gleiche Lustlosigkeit, kein Streben, kein Hoffen. Ich mutmaßte Heimweh, doch mein Forschen war vergeblich. Sonst edle, gute Menschen kannten den Begriff, Heimat, in unserem Sinne nicht. Man hatte diesen armen Menschen den Glauben geraubt und nichts dafür gegeben. Menschliche Maschinen, arme Geschöpfe, die nur in Angst vor dem nächsten Krieg lebten. Betonen möchte ich, dass ich damit nicht meine Ansicht, sondern den wiederholten Ausspruch russischer Menschen wiedergebe.

Erst viel später habe ich erfahren, dass der Ausladung der neuen Bewohner Memels eine Einkleidungs- und Zurechtmachungsordnung vorausgegangen sein soll.
Noch ein Bild aus Memels Straßen steht mir unauslöschlich vor der Seele, das Magazin. Lange Reihen, Frauen, Männer und Kinder, warten auf ihre Verpflegungsausgabe.
Verpflegngsausgabe? Selten habe ich jemand mit anderen Waren aus dem Magazin kommen sehen, als mit Brot nd Zigaretten. Alle Woche war auch etwas Grütze, Fisch oder Fleisch dabei, mit Ausnahme natürlich der landwirtschaftlichen Erzeugnisse des freien Marktes und der Waren des schwarzen Marktes. Diese Sachen interessieren hier nicht, ich spreche nur vom Magazin, also der normalen Verpflegung. Täglich wurden die Brotrationen abgeholt. Das Brot wurde nie in Papier oder in einer Tasche nach Hause getragen, sondern alle, ob Mann, ob Frau, ob Kind, hielten das Brot in beiden Händen, wenn sie den Laden des Magazins verließen, und bissen sofort hinein.

In jahrelangen Beobachtungen, die sich bis zu Beginn dieses Jahres erstrecken, habe ich nie einen Menschen aus dem Magazin kommen sehen, der nicht schon auf der Straße das eben empfangene Brot anbiss und kauend nach Hause ging. Ein Anblick, der schlecht zu lichtblonen Haaren und roten Fingernägeln passte.

Seite 4 Brief aus London. Freude über unser Mitteilungsblatt
Wie schon in den ersten Wochen, so erreichen uns auch weiterhin viele Briefe, in denen Landsleute ihrer großen Genugtuung über das Erscheinen unseres Mitteilungsblattes Ausdruck geben. In steigender Zahl findet „Wir Ostpreußen“ auch den Weg in das Ausland. Wir veröffentlichen heute mit besonderer Freude die Zuschrift einer jungen Landsmännin, die nach England geheiratet hat und uns aus London schreibt:
Hiermit möchte ich der Schriftleitung für die Veröffentlichungen in „Wir Ostpreußen“ meinen allerherzlichsten Dank aussprechen. Wie lange habe ich auf ein Mitteilungsblatt in dieser Form gewartet; aber leider blieb mein Wunsch bis jetzt unerfült. Um so mehr war ich freudig überrascht, als ich durch meine Freunde in den Besitz unseres Mitteilungsblattes gelangte. Gerade hier im Ausland fühlen wir uns der Heimat mehr verbunden denn je und sehnen uns nach jeder Nachricht, die unser geliebtes Ostrpeußen betrifft.
In diesem Gedanken möchte ich den Verantwortlichen viel Erfolg für die Weiterentwicklung dieser großartigen Idee wünschen und bleibe in heimatlicher Verbundenheit.
Gisela-Maria Lowell, geb. Rambock

Seite 5 Goldenes Ehejubiläum eines verdienten Seelsorgers
Am 12. April 1949 feierten im Altersheim der Inneren Mission in Bad Steben, Pfarrer i. R. Johannes Joachim und seine Ehefrau, das Fest der Goldenen Hochzeit. Fast 40 Jahre hat nach seiner Hilfspredigerzeit in Groß-Heidekrug, am Frischen Haff, der Ehejubilar in einer großen Arbeiter-Vorstadtgemeinde an der Ponarther Kirche in Königsberg gewirkt. Besonders im ersten Weltkrieg war er mit seiner Frau unermüdlich für das Wohl seiner Gemeinde tätig. 1936 trat Pfarrer Joachim in den Ruhestand, bis auch ihn das schwere Flüchtlingsschicksal traf. In einem Lager in Dänemark hat er dann noch 2 ½ Jahre lang hinter Stacheldraht eine Gemeinde von fast 2000 Ostpreußen betreut. Fast 80 Jahre alt ist Pfarrer Joachim inzwischen geworden, und seine Lebensgefährtin hat das 75. Lebensjahr vollendet. Die Innere Mission, Landesverband Bayern, gedachte des Goldenen Paares in einer zu Herzen gehenden Feierstunde.

Seite 7 Suchanzeigen
Georg Liebscher, aus Braunsberg, geb. 05.05.1927, ab 04.01.1945 im Arbeitsdienst in Döhnhoffstedt bei Rastenburg, letzte Nachricht vom 17.01.1945, wird gesucht von: Oskar Liebscher, (22a) Leverkusen-Schlebusch, Kalkstraße 90, Bauhof, Baracke 5, (früher: Braunsberg, Herbert-Norkus-Straße 13)

Familie Steinweller, aus Königsberg-Juditten, Friedrichswalder Allee 58, sowie alle Ost- und Westpreußen des Namens Steinweller und Gärtnereibesitzer Gustav Wenck, aus Keipern bei Neuendorf, Kreis Lyck, werden gesucht von: Otto Wenck, (20a) Pohle 48 über Bad Münder/Deister

Die Heimatkartei Samland, Hannover, Ihmestraße 1, sucht die Anschriften folgender, früherer Einwohner von Königsberg: Arno Geßner, Walter Zeese, Karl-Heinz Struwe, Karlheinz Rodies, Alfred Mild, Günther Sanieck, Günther Sauermann, Heinz Butschkau, Alfred Weiß, Heinz Thiel, Erwin Grzeskowiak.

Günther Peczkowski, geb. 18.04.1928 in Buchenhagen, Kreis Sensburg, zuletzt bei der Wehrmacht im Osten. Nachrichten über ihn erbittet: Emil Peczkowski, (23) Okel über Syke/Bremen

Frau Ida Lenz, aus Altenkirchen über Budwethen, Ostpreußen und Kinder Günther, Irmgard, Ursula und Werner, im Oktober 1944 in Pommern, seitdem keine Nachrcht. Auskünfte erbittet: Marie Lenz, (23) Markendorf, Kreis Celle über Lammersbrink

Familie Arendt, aus Allenstein, Dirschauerstraße 10, davon:
1. Karl Arendt, Jahrgang 1923, letzte Adresse, Feldpostnr. 20 001 A, im Einsatz bei Goldap
2. Gerhard Bönke, aus Allenstein, Zimmerstraße 41, letzte Adresse: Schule 6 für Fjh. d. Inf. Schwerin, Mecklenburg, 12. Insp. 46, Abt.
3. Fräulein Irmgard Klein, aus Allenstein, Wadangerstraße 42. Jahrgang 1925, werden gesucht von:
Herbert Witt, (24b) Bistoftholz über Mühlenbrück bei Flensburg

Frau Elise Elies, geb. Truppat, geb. 18.03.1864, aus Gumbinnen, Bismarckstraße 44 (Finanzamt), letzte Nachricht November 1944 NSV-Heim Gr. Szimnau, Kreis Osterode. Mitteilungen erbeten an: Frau Berta Hahn, (24b) Burg/Fehmarn, Niendorfer Weg 14

Fräulein Anna Pilchowski und Fräulein Rosenkranz, beide zuletzt wohnhaft in Trutenau bei Königsberg, und Oberstveterinär Franz Sauvat, Königsberg, Friedrichstraße 12, letzter Wohnort bei Frau Heien in Krug bei Wehlau, werden gesucht von: Hermann Krinda, Eimen 3 über Kreiensen, Hannover

Tischlermeister, Gustav Marglowski, geb. 08.12.1887, und seine Ehefrau Auguste, geb. Zimmek, geb. 21.03.1889, zuletzt wohnhaft in Flensburg, ehem. Adolf-Hitler-Straße 24. Auskünfte erbittet: Herbert Marglowski (22a) Köln-Nippes, Kuenstraße 29

Amtsgerichtsrat Fritz Turowski, Wehlau, und Frau Lydia Pitsch, Tiefenthal, Kreuzburg, werden gesucht von: Frau Anna Sonntag (21a) Gronau, Westf., Grünstraße 30

Friedrich Wischnewski, Baumeister, Frau Else Wischnewski, Ehefrau, geb. Raddatz, Fräulein Elfriede Wischnewski, Tochter. Georg Wischnewski, Sohn (zuletzt wohnhaft in Osterode, Ostpreußen), Herr und Frau Adolf-Elisabeth Raddatz, Arnau bei Osterode Herr Heinrich Raddatz, Osterode, Elvensponkstraße, Steinborn, Osterode, Jakobstraße. Familie Borchert (Lehrer) aus Arbei 6, Osterode. Werner Borchert und Ehefrau Brunhilde und andere Bekannte werden gesucht von: Artur Wischnewski (14a) Ludwigsburg, Königin-Allee 5

Volksschullehrer Hermann Florian, aus Holstein bei Königsberg, geb. 02.11.1888. Januar – April 1945 beim Volkssturm Juditten, wird gesucht