gestern in der SZ:
Jahrhunderte im Computer vereint
Stadtarchiv hat St. Wendels Geschichte vom 14. Jahrhundert bis 1974
digitalisiert
Anfragen aus den USA und Brasilien erreichen das St. Wendeler Stadtarchiv
zuhauf. Die Menschen, die sich bei den Archivaren melden, wollen mehr über
ihre Vorfahren herausfinden. Zuletzt bat ein Mann aus Großbritannien um
Hilfe.
Von SZ-Redakteurin Evelyn Schneider
St. Wendel. „Eines Menschen Vergangenheit ist das, was er ist. Sie ist der
einzige Maßstab, an dem er gemessen werden kann“. Dieses Zitat stammt von
dem amerikanischen Dramatiker Oscar Wilde. Es macht deutlich, dass die
Vergangenheit, die Wurzeln eines jeden von Bedeutung sind. Aus diesem Grund
machen sich immer mehr Menschen daran, die eigene Familiengeschichte zu
erforschen. So auch Michel Bru. Der gebürtige Franzose lebt in Großbritannien und
hat sich per Mail an unsere Redaktion gewandt. Der 32-Jährige ist auf der
Suche nach Informationen über seine Vorfahren, die von 1961 bis 1964 in St.
Wendel lebten. „Ich weiß nicht viel über die Familie meines Vaters. Er
wollte nicht, dass ich Kontakt zu ihnen habe“, schreibt Bru. Warum, das habe
er nie so recht verstanden. Deshalb möchte er mehr über die Vergangenheit
erfahren, um seinen Vater und dessen Familiengeschichte verstehen zu können.
Sein Großvater war in den 60er Jahren in der französischen Kaserne
stationiert. Damals wurde dessen Tochter bei einem Unfall vor der Schule schwer
verletzt und Brus Ur-Großvater starb während eines Urlaubs in St. Wendel. Gab
es etwa einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen?
Mit dieser Frage im Gepäck ging es zum St. Wendeler Stadtarchiv. Die
Mitarbeiter dort waren bereits mit dem Fall Bru vertraut. Hatten allerdings
nicht viel Erfolg bei den Recherchen gehabt. Sie wühlten sich durch
Zeitungsausgaben auf der Suche nach dem Unfall. Doch der angegebene Zeitraum von vier
Jahren war einfach zu groß. Mehr Erfolg gab es in Bezug auf Brus
Urgroßvater. „Er ist im September 1964 gestorben“, erklärt Gerhard Schnur,
kommissarischer Leiter des St. Wendeler Stadtarchivs. „Wir haben Michel Bru die
Sterbeurkunde geschickt.“ Dem Team des Archivs stehen für ihre Recherchen
verschiedene Informationsquellen zur Verfügung. Beispielsweise Geburts-,
Heirats- oder Sterberegister, Kirchenbücher oder lokale Zeitungen. Die Akten des
Standesamtes beginnen um 1800. 110 Jahre müssen die Geburtsregister auf dem
Standesamt verwahrt werden, 80 Jahre das Heiratsregister und 30 Jahre das
Sterberegister. „Danach kriegen wir sie“, so Schnur. Suchen die Mitarbeiter
des Archivs Informationen vor 1800 greifen sie auf die Kirchenbücher
zurück. Diese liegen teilweise im Original, teilweise als Kopie vor. „Wir können
Familien bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen“, sagt Schnur stolz.
Immer größer wird die Zahl der Hobby-Ahnenforscher, die sich an das Archiv
wenden. Die meisten Anfragen erreichen die Mitarbeiter aus Deutschland
selbst, den USA und Brasilien. „Manchmal freut man sich selbst, wenn man die
Familiengeschichte zurückverfolgen konnte“, gesteht Schnur. So erinnert er
sich an eine junge Amerikanerin, die sich an das St. Wendeler Archiv gewandt
hat. Ihre Vorfahren konnten bis 1700 zurückverfolgt werden. „Sie hat jetzt
einen Stammbaum, der älter ist als die USA“, verdeutlicht Schnur. Allen,
die sich für die Geschichte ihrer Familie interessieren, rät Magdalene
Grothusmann, Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste: „Man sollte
sich mit Ahnenforschung beschäftigen, im Verwandtenkreis Daten und Fakten
sammeln und so genau wie möglich, die Suchanfragen formulieren.“ Das helfe den
Mitarbeitern dabei, gezielt in die Recherche einzusteigen. Die kostet
nicht nur viel Zeit, sondern auch Gebühren.
In alten Büchern stöbern, vorsichtig in vergilbten Seiten blättern – diese
Zeiten sind im modernen St. Wendeler Archiv größtenteils passé. Die
empfindlichen historischen Akten sind in speziellen Mappen verstaut. „Es sind 600
laufende Meter Akten“, sagt Schnur. Mehr als 40 000 Fotos.
St. Wendels Stadtgeschichte vom 14. Jahrhundert bis 1974 ist bereits
digital erschlossen und zugänglich. Mit Hilfe eines Computerprogramms kann
gezielt recherchiert und die Ergebnisse für den Suchenden ausgedruckt oder als
pdf-Datei zur Verfügung gestellt werden. Komplett abgeschlossen ist die
Digitalisierung noch nicht. In einem leicht verdunkelten Raum des Stadtarchivs
sitzt Mitarbeiterin Diana Wern vor einem A2-Scanner und einem Monitor. Sie
trägt weiße Stoffhandschuhe, um die empfindlichen, alten Buchseiten nicht zu
beschädigen. Mit Sorgfalt wird Seite für Seite eingescannt.
Vergilbte, vergriffene oder leicht eingerissene Papiere sind beinahe an
der Tagesordnung. Hin und wieder hat der Zahn der Zeit so stark an den
Dokumenten genagt, dass eine Restaurierung nötig wird. Aktuell befindet sich eine
600 Seiten umfassende Akte aus dem 17. Jahrhundert beim Restaurator. „Die
Blätter fielen auseinander und die Seiten waren von Schimmel befallen“,
beschreibt der kommissarische Archiv-Leiter den Zustand des Dokuments. Etwa
3000 Euro kosten die Arbeiten.
So werden alte Dokumente für die Zukunft bewahrt. Moderne
Recherchemöglichkeiten geben Hobby-Forschern die Möglichkeit, ihre eigene
Familiengeschichte zu vervollständigen. Michel Bru ist mit Hilfe des Stadtarchivs einen
kleinen Schritt weitergekommen. Der Unfall der Tochter seines Großvaters steht
nicht im Zusammenhang mit dem Tod seines Urgroßvaters. Der 32-Jährige wird
weiter suchen nach Hinweisen auf seine Familie – in Polizei-, Militär- und
Schul-Archiven.
Erinnert sich jemand an den Unfall eines Mädchens zwischen 1961 und 1965
auf der Tholeyerstraße in St. Wendel in der Nähe der französischen Schule
(Teil der Kaserne). Das Kind wurde damals schwer verletzt. Infos bitte an die
Redaktion, Tel. (0 68 51) 9 39 69 50, Mail: redwnd@sz-sb.de