Text anläßlch der Übergabe der Gaigalat-Bibliothek an Litauen (1994)

Besondere Sammelschwerpunkte der Osteuropa-Abteilung

Zu den Beständen an litauischer Literatur in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer
Kulturbesitz: Das Depositum Gaigalaitis

Als wissenschaftliche Universalbibliothek sammelt die Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz weltweit die Fachliteratur aller Wissenschaftsbereiche. Einen fachlichen Schwerpunkt bilden hierbei die Geistes- und Sozialwissenschaften. Als regionaler Erwerbungsschwerpunkt wird seit
1950 in einer eigenen Osteuropa-Abteilung der Gesamtbereich “Osteuropa“ gepflegt, der die Gebiete östlich einer Linie der jeweiligen Westgrenzen der Länder Finnland, Baltische Länder, Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und der Balkanländer bis an die Ostgrenze der ehemaligen Sowjetunion umfaßt. Innerhalb dieses Erwerbungsschwerpunkts “Osteuropa“ haben wir uns auch bemüht, die wissenschaftsrelevante Literatur aus und über Litauen zu erwerben. Allerdings waren in der Vergangenheit - und auch jetzt noch - antiquarische Erwerbungen äußerst selten, denn weder aus Litauen noch aus der westlichen Welt wurden uns litauische Antiquaria in größerem Umfang angeboten. Da war es schon ein besonderes Ereignis für uns, als im Jahre 1956 die Witwe des kurz zuvor verstorbenen Professors Vilius Gaigalaitis unserer Bibliothek den Büchernachlaß ihres Mannes zur treuhänderischen Verwaltung anbot.

Der litauische Gelehrte, Politiker und Theologe Vilius Gaigalaitis lehrte seit 1925 an der Evangelisch- Theologischen Fakultät in Kaunas, wie bekannt. Nach der Annexion Litauens durch die UdSSR siedelte er nach Deutschland über und lebte in Bretten (Baden). Es gelang ihm 1941, einen Teil der ihm gehörenden oder von ihm verwalteten Bibliothek nach Deutschland zu bringen. Inwieweit dies rein persönlicher Besitz bzw. vom Memeler Verein “Sandora“ – dessen Leiter Gaigalaitis gewesen ist – übernommen war, sei dahingestellt. Für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in deren Obhut die
Bücher kamen, war diese Frage nicht relevant

Jedenfalls gelangten rund 2000 Bücher Lithuanica als Depositum 1956 aufgrund testamentarischen Vermächtnisses des Ehepaars Gaigalaitis in die damalige Westdeutsche Bibliothek, später Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, heute Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Die Übergabe erfolgte mit der Auflage, das Depositum einem wieder freien Litauen zurückzugeben, wobei es der “Wunsch“ der Eheleute Gaigalaitis war, dass die deponierten Bücher nach Kaunas gelangen sollten. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass über die gesamten Zusammenhänge und die Problematik anläßlich der Herausgabe eines Kataloges dieser Bestände in Rezensionen berichtet wurde, u.a. von Domas Kaunas in “Gimtasis krastas“, 25. Febr. 1982; von Provilas Reklaitis in “Zeitschrift für Ostforschung‘, 32. 1983, 1, S. 89 - 93; von Peter Wörster in “Preußenland“, 19. 1981, 4, S. 58 - 64. Was die z.B. von Herrn Prof. Kaunas damals angesprochene Problematik der Zugehörigkeit der Bücher zum Verein “Sandora“ betrifft, so war dies, wie bereits gesagt, für die Stiftung nicht von Relevanz:
1. gab und gibt es wohl keinen Rechtsnachfolger dieses Vereins,
2. waren die Bucher lediglich als Depositum (!) der Staatsbibliothek übergeben worden und waren der Öffentlichkeit bekannt,
3. waren die Bücher so vor einer drohenden Vernichtung oder Verlagerung unter Geheimhaltung geschützt.
Unter dem Aspekt, dass testamentarisch und dem erklärten Willen der Deposit-Bibliothek nach alle Titel
einem freien litauischen Staat wieder zugeführt werden sollten, ist es überflüssig, darüber zu streiten, was der Besitzstempel Sandora im einzelnen bedeutet. Ohnehin ist wohl nur der kleinere Teil der ursprünglichen Bibliothek erhalten geblieben. Der größere Teil der Bestände soll in Krottingen (Kretinga) eingelagert worden sein und gilt als “verschollen“. Es wäre interessant zu erfahren, welches Schicksal diese Bücher hatten und ob sie heute noch existieren.

Das Depositum Gaigalaitis gehört zum wertvollsten Bestand an Baltica, die der wissenschaftlichen Benutzung zur Verfügung standen. Freilich muß man einräumen, dass die Benutzung relativ gering war, da es in Deutschland nur wenige sprach- und sachkundige Wissenschaftler gibt. In Berlin zum Beispiel existiert kein Lehrstuhl für Baltistik, weder an der Humboldt-Universität, noch an der Freien
Universität Berlin. In seiner Einleitung zum Baltica-Katalog, 1980, schreibt Jochen D. Range: “Bis heute ist keine litauische Literaturgeschichte in dt. Sprache geschrieben worden, das letzte brauchbare Lehrbuch der litauischen Sprache in deutscher Sprache hat Alfred Senn vor 51 Jahren geschrieben, ...
Erweiterungen der baltischen Forschung auf geschichtliche Fragen, literarische Probleme, deskriptive
Grammatik sind bekannt, ... bleiben aber die Ausnahme. Fragen der Volkskunde, Musik, Malerei oder
Theater, der Geographie und Kulturgeschichte werden kaum noch gestellt. Es besteht die Gefahr, daß die Existenz eines Kulturkreises, der uns in vielfältiger Weise verbunden war und geistig auch heute noch ist, bei uns nicht mehr wahrgenommen wird, bzw. wegen der fehlenden Sprachkenntnisse nicht mehr wahrgenonunen werden kann.“ Es ist zu hoffen, daß durch die Öffnung der osteuropäischen Länder nach Westen sich die Verhältnisse langfristig ändern und auch bei uns wieder in größerem Umfang in die Erforschung der Kultur der baltischen Länder investiert wird.

Das Depositum Gaigalaitis bietet dem interessierten Lithuanisten ein breites Spektrum an Literatur: Titel aus der Zeit der nationalen Wiedergeburt, frühe Zeitungen, Lyrik, Prosa, theologische Literatur, politische Schriften, insbesondere aus der Zeit zwischen 1914 - 1939, aber auch Kleinschrifttum zu Problemen des täglichen Lebens sind vertreten. Ein vollständiges Spiegelbild des litauischen kulturellen Lebens zwischen etwa 1850 bis 1939 konnte dies Depositum mit knapp 2000 Titeln nicht sein, jedoch
in seiner Gesamtheit sowie zusammen mit der ohnehin in der Staatsbibliothek vorhandenen Literatur bietet es dem Forscher der litauischen Kultur eine solide Quellengrundlage.

Das Depositum Gaigalaitis wurde sogleich nach der Übernahme katalogmäßig im Osteuropa- Sammelkatalog unserer Bibliothek nachgewiesen. 1978 begannen die Arbeiten an der Erschließung der Bestände in einem Sonderkatalog “Baltica. Depositum Vilius Gaigalaitis. Aus der Bibliothek Eduard Hermann“, der 1980 abgeschlossen wurde. Zu diesem Zeitpunkt erschien der Katalog im Druck, inhaltlich gut systematisch gegliedert und durch Verfasser- und Sachtitelregister erschlossen. Wir
hatten uns entschlossen, die Titel aus der Bibliothek Hermann mit aufzunehmen, soweit diese sich auf die baltischen Sprachen und Völker bezogen (Litauer, Letten, Preußen), da diese eine hervorragende
Ergänzung zum Depositum Gaigalaits darstellten, insbesondere hinsichtlich Sprach- und
Literaturwissenschaft. Hervorgehoben sei die “Postilla“ aus dem Jahre 1591 des Jonas Bretkunas sowie frühe Ausgaben der Gebets- und Gesangbücher, hrsg. von Daniel Klein. Das Depositum Gaigalaits sowie die ebenfalls im Baltica-Katalog nachgewiesene Literatur von Eduard Hermann ergaben zusammen einen Baltica (Lithuanica)-Bestand, der sicherlich als bedeutend im westlichen Europa bezeichnet werden konnte. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hatte die Bearbeitung des Baltica-Kataloges, dessen Bearbeitung 1 1/2 Jahre in Anspruch nahm, mit erheblichen Mitteln gefördert.

Nunmehr ist der Zeitpunkt gekommen, das Testament des Vilius Gaigalaitis zu erfüllen. Es war sein und seiner Gemahlin Wunsch, die Bücher, sobald Litauen wieder ein unabhängiger und freier Staat wird, an die Universität Kaunas zurückzugeben. Leider bieten die Verhandlungen über die Rückführung deutscher Bibliotheksbestände mit Russland z. Zt. ein eher unwürdiges Beispiel, sie ziehen sich auch über Gebühr in die Länge. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz möchte nicht so verfahren, sondern ohne Wenn und Aber das Depositum Gaigalaitis wieder schnellstmöglich an Litauen zurückgeben. Mit Schreiben vom 30.9.1993 hat sich der Stellvertretende Minister für kulturelle Angelegenheiten der Republik Litauen an die Staatsbibliothek mit der Bitte um Erörterung der Angelegenheit gewandt. Nach Rücksprache mit dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben wir am 10. November d.J. geantwortet, daß wir selbstverständlich die Originale dem Ministerium übergeben wollen, und zwar mit der Bitte, entsprechend dem testamentarischen Vermächtnis von Prof. Gaigalaitis den Nachlaß an die Universitätsbibliothek Kaunas bzw. deren Rechtsnachfolger weiterzuleiten.
Zuvor sollten die Titel mikroverfilmt werden, damit die Texte weiterhin in Berlin präsent sind und dem deutschen Leihverkehr zur Verfügung stehen, zumal sie ja durch einen recht aufwendigen gedruckten Katalog erschlossen worden sind.

Damit ist das Kapitel eines langen Weges dieser Bücher abgeschlossen. Das wichtigste Ergebnis ist, daß sie letztlich der Forschung und der Republik Litauen erhalten geblieben sind. Kriegsbedingte Ereignisse und die Okkupation Litauens standen am Beginn dieses Weges. Die Staatsbibliothek zu Berlin hat das Ihre dazu beigetragen, daß die Bestände ordentlich aufbewahrt, erschlossen, Interessierten zugänglich gemacht wurden und schließlich an ihren Standort zurückkehren können. Ich hoffe, daß dies ein guter Beginn und ein neues Fundament für die Zusammenarbeit zwischen den Bibliotheken der freien Republik Litauen und der Staatsbibliothek zu Berlin, die ja nun in zwei Häusern - jeweils in Ost und West — zusammenwächst, sein wird.

Text: F. Görner, Abteilungsleiter der Osteuropa-Abteilung von 1972 - 2000. Erschienen in: Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumenationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung. 14. 1994,1 und als Referat gehalten am 14.12.1993 auf der internationalen Tagung “History of Lithuanian Library Holdings in the 2Oth Century“ in Vilnius.