Standesbezeichnungen Raum Merseburg - Nachbar, Einwohner, Gerichtsschöppe

Hallo Steffan,

<< wenn man danach festhält dass der Nachbar ein Mitglied der Gemeinde ist, warum die zusätzliche Verwendung des Wortes Einwohner ? >>
<< Außerdem, wenn so ziemlich jeder in einem Ort Nachbar (& Einwohner) ist, warum dies extra benennen ? >>

weil die rechtlichen Grundlagen für "Nachbarn" und für "Einwohner" völlig unterschiedlich waren - man muß die rechtlichen Begriffe und ihre Hintergründe berücksichtigen ...

Hier also mal die Erklärungen:

Nachbar

- Auf dem Land: Dorfsgenosse, vollberechtigter bäuerlicher Grundbesitzer mit Nutzungsrechten in der Allmende und mit Dingpflicht, i. U. zum minderberechtigten Dorfbewohner ohne Grundbesitz, Nutzungsrechte und ohne Dingpflicht, auch geerbter Nachbar; der Dorfgenosse einer fremden Gemeinde ist der auswendige Nachbar.
- In einer Stadt: vollberechtigter Bürger eines bestimmten Wohngebiets oder Straßenzugs, Mitglied einer Nachbarschaft.
(Quelle: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW))

- In noch weiterer Bedeutung heißen in einigen Gegenden, z. B. im Meißnischen, alle Einwohner, und im engeren Verstande alle mit Grundstücken versehene Einwohner eines Dorfes Nachbarn, da denn dieses Wort auch wohl für Einwohner überhaupt besonders einen solchen, der ein Bauerngut besitzet, gebraucht wird. S. unter Nachbarrecht.
(Quellen: Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie (ab 1773) sowie Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, (1774-1786))

Einwohner, Inwohner

- allgemein Bezeichnung für Stadt-, Dorf-, Landbewohner
- als Gegensatz zu Bürger, Leute, welche in der Stadt ansässig sind, jedoch das Bürgerrecht nicht haben
- Hausbewohner, Mietwohner
(Quelle: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW))

- Der in einem Orte wohnet. In engerer Bedeutung werden die Einwohner eines Ortes zuweilen den Bürgern entgegen gesetzet, und alsdenn verstehet man unter den erstern bloß die Schutzverwandten.
(Quellen: Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie (ab 1773) sowie Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, (1774-1786))

Gerichtsschöppe

- Gerichts=Schöppe, der Schöppe oder Beysitzer eines Gerichtes, Fr. E' chevin, Assesseur de justice. Auf einigen Dörfern wird auch der Richter unter den Bauern, welcher in geringen Dingen Recht spricht, Gerichtsschöppe genannt.
(Quellen: Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie (ab 1773) sowie Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, (1774-1786))

- Gerichtsbeisitzer aus dem Volke.
- auf einigen Dörfern wird auch der Richter unter den Bauern, welcher in geringen Dingen Recht spricht, Gerichtsschöppe genannt.
[Anm.: "Dinge" sind hier nicht im heutigen Sprachgebrauch Sachen, sondern die alten Gerichtsversammlungen der Bevölkerung, noch stammend aus dem gemeingermanischen Thing. Geringes Ding ist also sog. Niederes Recht wie Nachbarschaftsrecht, usw., kein Strafrecht]
(Quelle: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm)

Dingpflicht

- Pflicht zur Teilnahme an bürgerlichen Abgaben und Lasten; Gerichtspflicht
- Gerichtsbezirk
- dingpflichtiges Gut [d. h., Bauerngut, Gutsbesitz]
(Quelle: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW))

Kurze Zusammenfassung:

- Ein "Nachbar" war ein Dorfgenosse, ein vollberechtigter und ggf. pflichtiger (etc., s. o. DRW) bäuerlicher Grundbesitzer. Ein Bauer konnte aufgrund von berechtigendem Grundbesitz auch Nachbar (und daher auch Gerichtsschöppe) in anderen Dorfgemeinschaften sein, war dort aber kein Einwohner.
- Ein "Einwohner" war ganz allgemein ein Bewohner eines Dorfs. Er hatte keinen berechtigenden und pflichtigen Besitz im Dorf und konnte u. U., mußte aber nicht zwangsläufig Rechte und/oder Pflichten innerhalb der Dorfgemeinschaft haben.
- Ein "Nachbar und Einwohner" ist daher ein ortsansässiger, vollberechtigter (etc., s. oben) Grundbesitzer.
- Ein Gerichtsschöppe war Gerichtsbeisitzer aus den dem Amt zugeordneten Dorfgemeinschaften, in denen er i. d. R. Bauer war, also Grundbesitz hatte, und zwar bei Dingversammlungen (Dingen, Gedingen) der Amtsrichter (vom Amt zum Richter ernannter Bauer).
Auf Dingversammlungen der Landrichter (höchstes Amt für einen Bauern) waren Landschöppen die Beisitzer.
Er war *keine Art Bürgermeister*, denn er nahm nicht (nur) für seine Dorfgemeinschaft, sondern für das Amt an Dingen teil, die am Ort des Amtgerichtssitzes stattfanden.

Viele Grüße,
Jürgen