Roger Minert ist ein netter Mann - ich traf ihn beim Genealogentag in
Melle 2018 - und ungeheuer fleißig. Mit seinen Studenten bemüht er sich,
genealogische Quellen in den USA auszuwerten, wofür ihm viel Anerkennung
zusteht. Eine der interessantesten Quellen der USA ist das 10-jährliche
Volkszählungssystem (Census) u.a. deswegen, weil es die kompletten USA
umfaßt, was das Auffinden einzelner Personen extrem erleichtert. Dieses
Buch geht der Frage nach, ob es so etwas auch in Deutschland gab. Denn
das ist das große Problem von Amerikanern auf der Suche nach ihren
Vorfahren: aus welchem Ort kamen sie? Hätten wir ein umfassendes
Censussystem wie die Amerikaner, wäre die Suche nach einer einzelnen
Person oder Familie viel einfacher. Haben wir aber nicht. Obwohl wir
Volkszählungen schon hatten. Aber immer nur einzelne in den einzelnen
Territorien, die heute Deutschland sind.
Minert hat in Vorbereitung dieses Buches „Volkszählungen in Deutschland
1816-1916“ dieses Problem erkannt und sich entschieden, nicht nach
heutigen Territorialaufteilungen zu sortieren (also Bundesländer,
Kreise, Gemeinden), sondern nach ehemaligen. Nach einer wirklich
interessanten Einleitung kommt Minert gleich in medias res und nennt in
37 Einzelkapiteln die verschiedenen Quellen der verschiedenen
Territorien Anhalt, Baden, Bayern, Brandenburg, Braunschweig, Bremen ,
Elsaß-Lothringen, Hamburg, Hannover, Hessen, Hessen-Nassau,
Hohenzollern, Lippe, Lübeck, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz
, Oldenburg, Ostpreußen, Pommern, Posen, Reuß ältere Linie , Reuß
jüngere Linie , Rheinprovinz, Sachsen (Königreich) , Sachsen (Provinz) ,
Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Meiningen,
Sachsen-Weimar-Eisenach , Schaumburg-Lippe, Schlesien ,
Schleswig-Holstein , Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sonderhausen,
Waldeck, Westfalen, Westpreußen, Württemberg. Und genau da gehen für den
deutschen Benutzer, der wissen will, was es in seiner Stadt an
Volkszählungsunterlagen gibt, die Probleme los. Denn er muß
herausfinden, zu welcher der genannten Territorien - das sind
Königreiche, Herzogtümer, Großherzogtümer, preußische Provinzen,
Fürstentümer und die eine oder andere Freie Stadt - seine Stadt gehört
hat. Das würde erleichtert, in dem man hinten im Buch ins Register
schaute, wenn es ein solches gäbe.
Ich suche meinen Heimatort St. Wendel. Der gehörte zwischen 1816 und
1834 ins Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha. Kapitel 31 auf Seite 113. Dort
erfahre ich kurz etwas über die geographische Lage des Herzogstums (das
jeden Amerikaner zu dem Schluß kommen lassen wird, St. Wendel dort
definitiv nicht suchen zu müssen, da der Ort 400 km westlich liegt).
Egal, ich weiß ja, daß er dorthin gehört. Dann erfahre ich, daß es 1816,
1831, 1834, 1837, 1840, 1843, 1846, 1849, 1852, 1855, 1858, 1861 und
1864 hier Volkszählungen gab, von denen aber nur von 1837, 1846, 1849,
1852 und 1855 Unterlagen vorhanden sind. Nun gut, das trifft nicht meine
zeitliche Auswahl, aber vielleicht findet sich in 1837 doch etwas
interessantes.
Unterkapitel III sagt mir, wie ich Zugang zu den Aufzeichnungen erhalte.
Dort steht, daß ich mich an die Website
„Thüringer Staatskanzlei | Thüringer Staatskanzlei halten soll.
Die deutsche Übersetzung kam 2017 raus, heute - 22.11.2020 -
funktioniert der Link nicht mehr. Blöd. Dann wird mir geraten, an Stadt-
und Kreisarchive zu schreiben, weil die Library der Mormonen in Utah
kein mikroverfilmten Unterlagen dazu besitzt. Deren Website funktioniert
noch, aber was soll ich dort, wenn sie nichts haben?
Dann kommt noch ein Volkszählungsblatt von 1846 als Kopie, und das wars.
Keine Anschriften - z.B. von den Stadtarchiven in Coburg oder Gotha oder
von den Landesarchiven - und nicht eine Angabe, wo die aufgelisteten
Volkszählungsunterlagen der Jahre 1837, 1846, 1849, 1852 und 1855 zu
finden sind. Keine Archive, keine Signaturen.
Weiter im Text. Meine Heimatstadt liegt heute im Saarland, das war nach
dem Abzug der Coburger 1834 preußisch geworden und gehörte zur
Rheinprovinz. Dann finde ich bestimmt dort etwas. Kapitel 104 auf Seite
107. Wieder die geographische Lage und wieder eine Übersicht der
vorhandenen Volkszählungsunterlagen, immerhin 15 zwischen 1822 und 1862,
davon nur 4 ohne Unterlagen.
Wo sie zu finden sind? Hier steht, daß die regionalen Archive im
heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz über relativ wenige Unterlagen in
der damaligen Rheinprovinz verfügen. „Forscher können zwar dorthin
schreiben, aber es ist immer besser, eine Stadt- oder Kreisarchiv
anzuschreiben“. Was ist das für ein Exkrement? Sind Stadt- und
Kreisarchive etwa keine regionalen Archive? Und wenn sie es tatsächlich
keine sein sollten - was sind dann regionale Archive? Dann geht’s direkt
wieder zu den Mormonen, bei denen eine Anzahl mikroverfilmeter
Unterlagen vorliegen. Noch ein Bildchen vom Volkszählungsblatt 1822
Gräfrath, das wars.
Uhm, Moment mal, und was ist mit den anderen heutigen Bundesländern, die
zur Rheinprovinz gehörten - z.B. dem Saarland, wo meine Heimatstadt St.
Wendel liegt oder Nordrhein-Westfalen? Die fallen völlig hinten runter.
Was soll ich mit diesem Buch, wofür ich 35 Euro ausgegeben habe? Die
Artikel über die Volkszählungen per se, also die „generalia“, die mögen
gut sein, das vermag ich nicht zu beurteilen, aber der Rest - mag zwar
stimmen, ist aber für die Forschung völlig unbrauchbar, weil nur simpel
oberflächig. Mir ist klar, daß ein ansatzweise vollständiges Buch zu
diesem Thema mit 173 Seiten nicht ausgekommen wäre. Aber wenn mir als
Familienforscher mit einigermaßen Erfahrung das Buch nichts bringt, wie
ist es dann mit einem Amerikaner, der sich geographisch und
politikhistorisch in Deutschland überhaupt nicht auskennt?
Diese Publikation ist rausgeschmissenes Geld. Mehr nicht.