Reise nach Schlesien, 10. - 13. August 2004 (Teil 2 von 2)

12. August 2004

Heute wollen wir in der näheren Umgebung bleiben. Zuerst besuchen wir den
Friedhof von Dörnhau, wo viele Tote des Unternehmens „Riese“ in
Massengräbern beigesetzt wurden. Der Friedhof ist zu einer
polnisch-jüdischen Gedenkstätte ausgebaut worden, die nicht gerade einen
gepflegten Eindruck macht. Auch ist die Gedenkstätte schwer zu finden, sie
liegt direkt an der Bahnlinie Waldenburg – Glatz. Wer nähere Angaben oder
Fotos möchte, kann sich gern direkt an mich wenden.

Als nächstes hatten wir vor, die Weistritz-Quelle am Rumpelbrunnen in
Oberwüstegiersdorf aufzusuchen. Das war aber mit Schwierigkeiten verbunden.
Die Polen haben den Verlauf der Weistritz geändert, d. h. ein Nebenfluss
(Goldwasser) wurde zur Weistritz. Die ursprüngliche Quelle hat ihre
Bedeutung verloren uns ist auch nicht mehr markiert. Wir konnten nur ahnen,
dass wir an der erwünschten Stelle standen.

Wir bewundern noch das Eisenbahn-Viadukt in Wüstegiersdorf, einen
kunstvollen Fabrikschornstein und, immer wieder, die klassizistische Kirche.

Das nächst Ziel ist Donnerau, mit seiner gut erhaltenen Schrotholzkirche.
Dann fahren wir das Reimsbachtal, im Waldenburger Bergland, entlang bis
Reimswaldau, wo es auch wieder eine schöne Holzkirche gibt. Dieses Tal
spielt in meiner persönlichen Biografie eine Rolle. Am 7. Mai 1945 sind wir
mit einem Lkw der Firma Websky, Hartmann & Wiesen vor den anrückenden Russen
geflohen. Wie es sich zeigte, war die Propaganda der Nazis in diesem Fall
durchaus zutreffend. Die Rotarmisten traten nicht wie Angehörige eines
zivilisierten Staates auf, sondern eher, wie die Horden Tschingis-Khans. Wie
die Gerüchtelage damals so war, vermuteten alle, in Böhmen treffe man den
Amerikaner. Also auf nach Böhmen! Leider ging damals der Lkw kaputt und wir
mussten die Flucht zu Fuß fortsetzen. Das alles geschah im Reimsbachtal. Wir
versuchten, möglichst die Straßen zu meiden. Als wir aber eine Straße
überqueren mussten, liefen wir den sowjetischen „Befreiern“ (wie sie später
sogar von Deutschen bezeichnet wurden) direkt in die Arme. Wir wurden, da
wir alle die Hände heben mussten, sehr bequem von Ringen, Uhren und
sonstigem Schmuck befreit. Das war noch recht moderat, die Vergewaltigung
stand den Frauen ja noch bevor.

Ich wollte sehen, ob ich noch Erinnerungen an die Örtlichkeit habe.
Allerdings war ich damals erst 6 Jahre alt. So konnte ich, mit einiger
Unsicherheit, den Gasthof, wo wir unser Gepäck damals ließen, wieder finden.

Zurück in Wüstewaltersdorf haben wir den neuesten Stand fotografiert. Das
Ausschlachten der stillgelegten Textilfabrik geht weiter. Jeder kann sich
dort Baustoffe herausholen. Da es keine Aufsicht gibt, ist das ganze eine
recht gefährliche Angelegenheit.

Den Abschluss des Tages bildete eine „Befahrung“ des Silberlochs, einer
Abbaustelle von Silber in meinem Geburtsort. Allerdings ist schon zu
deutscher Zeit der Abbau eingestellt worden, wegen mangelnder Ergiebigkeit.
Zu Pfingsten fanden an der Stelle immer Konzerte der Feuerwehrkapelle statt,
deren Leiter mein Großvater, Karl Leistritz, war. Clevere Polen haben das
ganze wieder zugänglich gemacht und 1,25 Euro Eintritt sind ja
erschwinglich.

Unsere polnischen Freunde hatten für mich noch eine Überraschung
vorbereitet. Ich konnte mein Geburtshaus vom Keller bis zum Boden
besichtigen. Die Erinnerungen, Empfindungen und Gefühle dabei sind sehr
privat und gehören nicht hier her.

13. August 2004

An diesem Tag fahren wir wieder zurück. Vorher wollen wir aber noch eine
Buche besuchen, die auf einem Buchberg in der Gemarkung Rudolfswaldau steht.
Es ist eine besondere Buche. Sie kommt nämlich in eine einer Sage aus dieser
Gegend vor, die in einer Sammlung von Sagen, erschienen 1900 (in Leipzig),
verewigt ist. Vor über hundert Jahren wird die Buche schon als innen hohl
und den Stürmen der Zeit trotzend, beschrieben. Diese Buche gibt es immer
noch!

Folgende Überlegungen sind dabei legitim. Wenn eine, über Jahrhunderte in
einem Gebiet lebende Bevölkerung ausgetauscht wird, was wird mit den Sagen,
Märchen, Geschichten, Sitten und Gebräuchen? Übernimmt die neue Bevölkerung
die Überlieferungen oder werden neue „erfunden“? Ich habe die Hoffnung, dass
die alten Überlieferungen weiterleben. Meine polnischen Freunde haben mich
in dieser Auffassung bekräftigt.

Für mich bleibt es immer noch ein unfassliches Ereignis, die ganze
Vertreibung. Stalin, der Diktator des größten Landes dieser Erde durfte
seinem Steckenpferd frönen, und sein Land, auf Kosten anderer, weiter
vergrößern. Nahezu alle Länder die an die SU grenzten waren betroffen:
Polen, die baltischen Länder, Finnland, Slowakei, Rumänien, selbst Japan und
natürlich Deutschland. Allen wurde mehr oder weniger weggenommen oder sie
wurden gleich ganz einverleibt. Die Alliierten Stalins schauten dem Treiben
zu bzw. billigten es. Es war Wahnsinn, die Grenzen vom dünn besiedelten
Osteuropa nach dem dicht besiedelten Westen zu verschieben. Man sehe sich
heute das russische Ostpreußen an und vergleiche es mit früher.

An Deutschland hätte man sich viel besser schadlos halten können, als durch
Amputation großer Teile seines Staatsgebietes. Mich schmerzt es jedenfalls
immer noch, wenn ich auf der Landkarte das verstümmelte Deutschland sehe.

Leider muss ich alle enttäuschen, denen ich Nachforschungen in den
Kirchenbüchern im Pfarramt Waldenburg versprochen hatte. Der Pfarrer hatte
vergessen, den Schlüssel für das Archiv vor Urlaubsantritt seiner Sekretärin
zu übergeben.

Da es in der vergangenen Nacht geregnet hatte, war auf der gesamten
Rückfahrt exzellente Fernsicht. So begleitete uns die Schneekoppe einen
großen Teil unseres Weges. Selbst kurz vor Görlitz konnten wir sie noch gut
erkennen.

Wüstewaltersdorf – Leipzig (über Waldenburg, Hirschberg) 370 km

Leipzig, am 23.08.04

Wolfgang Leistritz * 1938 im Eulengbirge