Reise nach Schlesien, 10. - 13. August 2004 (Teil 1 von 2)

Vorbemerkung

Wer von uns in Schlesien geboren ist, und heute dorthin fährt, in die alte
Heimat (manche sagen auch fremde Heimat), der hat mit den verschiedensten
Gefühlen zu tun. Ich glaube aber, ganz ohne Wehmut geht es bei keinem ab.
Auch gibt es viele Ostdeutsche, die ihren Geburtsort nicht mehr sehen
wollen. Sie fürchten die seelische Erschütterung. Sicher wird aber kein
gebürtiger Schlesier der Leiterin der Gedenkstätte in Kreisau, Annemarie
Franke, zustimmen, die sinngemäß wiedergibt: Zum Glück ist Kreisau heute
polnisch, das befreit es von einer deutschen Enge und macht es zu einem
europäischen Ort.

Es ist schön, wenn die Schneekoppe oder die Hohe Eule von der Ferne
erkennbar werden und es ist traurig, in welchem Zustand Städte, Dörfer und
viele Gebäude heute sind. Eine Wendung zum Besseren an vielen Stellen soll
aber von mir nicht negiert werden.

.

10. August 2004

Das Positive an der Grenze (Autobahn 4, Görlitz) gibt es keine Schlangen und
Wartezeiten mehr, seit der EU-Mitgliedschaft Polens, weder bei der Aus- noch
bei der Einreise.

Achtung, an der Grenze tauscht man zu einem ungünstigen Kurs 1 : 4, im
Landesinneren 1 : 4,50!

Da wir nach Breslau wollen, fahren wir nach Bunzlau um dort die Autobahn zu
erreichen. Am Ortseingang erregt ein sowjetischer Kriegsfriedhof unsere
Aufmerksamkeit. „Gefallenenfriedhof Kutusow“ lesen wir. Am Eingang stehen
links ein steinerner Rotarmist, dem man ein Hakenkreuz auf den Bauch und
schielende Augen gemalt hat und rechts ein russischer Soldat in der Uniform
von 1813. Inmitten von Gräbern der 1945 gefallenen Rotarmisten steht eine
Säule mit russischer und deutscher Inschrift. Die deutsche Inschrift: „Fürst
Kutusoff Smolensky schlummert in ein besseres Leben hinüber am 15./28.April
1813“. Beim Studium entsprechender Quellen, zu Hause, erfahren wir, dass
Kutusow in Bunzlau gefallen war und in der Stadt ein gusseisernes Denkmal
vom preußischen Verbündeten aufgestellt wurde. Kenner von Bunzlau, gibt es
das Denkmal heute noch? Der 15. und 28. April hat seine Ursache sicher in
der unterschiedlichen Zeitrechnung. Wie wir gelernt haben, fand die
russische Oktoberrevolution, nach deutscher Zeitrechnung ja auch im November
1917 statt.

Die Autobahn war einerseits eine Enttäuschung, da nur zwei Spuren (1x hin,
1x zurück) freigegeben waren, andererseits erfreulich, dass nunmehr die
polnischen Niederlassungen der Baufirmen Walter und Heilith & Wörner die
Orginalbetonplatten von 1938 erneuern. Wir verließen die Autobahn wieder, um
über Neumarkt die Straße nach Breslau weiter zu fahren. Da grüßte uns der
schlesische Berg, den man von einem großen Teil Niederschlesiens sehen kann,
der „gute ahle Zoderbarg“, der Zobten.

In Neumarkt halten wir kurz, um ein paar Fotos zu machen. Der Ring wurde,
seit meinem letzten Besuch 1991, recht schmuck herausgeputzt. Außerhalb des
Stadtzentrums der gleiche traurige Zustand, wie in anderen schlesischen
Städten. In Eisendorf Kreis Neumarkt habe ich die Kriegsjahre 1942-44 bei
meinen Großeltern verbracht.

Die schlesische Landeshauptstadt beeindruckt durch ihre Bauwerke: Dom,
Kirche Maria-Magdalena, Elisabethkirche, Rathaus, Ring, Universität,
Kaiserbrücke, Jahrhunderthalle – um nur einige zu nennen. Anzuerkennen ist
das Bemühen der Polen, bei Wiederaufbau und Sanierung um Originaltreue.

Aus „Gruß Brassel“ ist wieder Wroclaw geworden, da tröstet es auch nicht,
dass Kasimir III. 1335 im Vertrag von Trenschin für „ewige Zeiten“ auf
Schlesien verzichtet hat. Es ist höchstens ein Hinweis, was Verträge wert
sind. Der nahezu komplette, gewaltsame Austausch der Bevölkerung einer
Großstadt mit 630 000 Einwohnern, innerhalb weniger Jahre, ist und bleibt
wohl auch eine Einmaligkeit in der Weltgeschichte. Dazu gehörte auch die
Beseitigung nahezu aller schriftlichen Spuren, die die ehemalige Bevölkerung
über Jahrhunderte hinterlassen hatte. Denkmäler, Friedhöfe, Inschriften,
Symbole usw..

Wir verließen Breslau in Richtung Schweidnitz, besuchten am Stadtrand noch
ein Einkaufszentrum, das sich kaum mehr von einem in Deutschland
unterscheidet (Globalisierung).

Breslau gerade verlassen, schon grüßte wieder der Zobten. Schweidnitz mit
dem höchsten Kirchturm Schlesiens ist schnell durchfahren und wir folgen der
Weistritz. Die Weistritztalbahn, die unsere Vorfahren mit großem Aufwand um
1900 erbauten (1904 eröffnet), ist auch stillgelegt. Da können wir den Polen
keinen Vorwurf machen – bei uns hätte sie sicher aus Rentabilitätsgründen
auch schon ihren Betrieb eingestellt.

In Oberweistritz sehen wir uns die Kirche an. Die Grabplatten aus deutscher
Zeit sind sehr ordentlich bei der Sanierung wieder eingemauert worden. Wege,
Grünanlagen und Kirchen machen einen sehr ordentlichen Eindruck.

Gegen 20.00 Uhr treffen wir bei unseren Freunden in meinem Geburtsort
Wüstewaltersdorf ein und werden, wie immer, herzlich begrüßt.

Leipzig – Breslau (über Neumarkt) 390 km

Breslau – Wüstewaltersdorf (über Schweidnitz) 85 km

11. August 2004

Wir bleiben zunächst in der Nähe. Neben den schon zugänglichen Schächten des
Vorhabens Riese ist ein neuer Bereich am Wolfsberg zu besichtigen. Nach wie
vor hat kein Forscher zweifelsfrei beweisen können, ob es ein
Führerhauptquartier oder eine Produktionsstätte für Rüstung (V2-Fertigung)
werden sollte. Tatsache ist, dass die ganze Bautätigkeit unter der Leitung
der Organisation Todt stand und viele Menschen aus aller Herren Länder,
insbesondere KZ-Häftlinge aus Groß-Rosen und sowj. Kriegsgefangene dort
unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten.

Die privaten Investoren, die die Anlage am Wolfsberg heute betreiben, haben
allerlei Waffen (Panzer, Flak, Pak, Lkw – alles sowj. Ursprungs)
zusammengetragen, an denen jeder nach Herzenslust spielen kann. Die
Angestellten tragen polnische Felduniform, sind aber wohl keine
Armeeangehörige. Die Betreiber haben sich schon den Vorwurf gefallen lassen
müssen, dass sie an dieser Stätte ein Disney-Land geschaffen haben.
Ansonsten ist es das gleiche Bild, das einen in Dorfbach empfängt:
Kilometerlange Gänge mit hallenartigen Erweiterungen. Vorgelagert gibt es
hier ins Erdreich gebaute massive Stahlbeton-Bauwerke, z.T. gesprengt. Wir
konnten dort eine neue Karte im Maßstab 1:11000 erwerben. Interessant, dass
auch in Polen der Spruch der Amerikaner „Hitler sells“ bekannt ist. Auf der
Karte ist Hitler in vollem Ornat abgebildet.

Unser nächstes Ziel ist die Festung Silberberg, am südöstlichen Ende des
Eulengebirges. Aus der Literatur: Passfestung Silberberg, d i e
friderizianische Festung, erbaut 1726 – 1792, ab 1763 zur Komplettierung des
schles. Festungsgürtels. Donjon, das größte kasemattierte Bollwerk Europas.
Als Baustoffe dienten Roter Sandstein, Grauwacke und Ziegelsteine. Es
beeindruckt schon, was Menschen vor über 200 Jahren, mit der Technik von
damals, so alles zu Wege brachten. Leider ist das Ende auch schon in etwa
abzusehen. Ganze Mauerwerksteile rutschen ab. Es müssten Millionen
investiert werden, um das Bauwerk zu erhalten. Wer hat die?

Von der Festung hat man einen wunderschönen Blick auf die umgebenden Berge
des Eulen- und Warthaer Gebirges, aber auch auf die Ebene um Frankenstein.

In Frankenstein stellen wir unser Auto am neogothischen Rathaus ab, kommen
mit einem freundlichen Herren ins Gespräch, der sehr gut Deutsch spricht und
uns sagt, dass er in diesem Jahr 80 und seine Mutter 100 wird. Wer zum
Einkaufen nach Frankenstein fahren will, sollte beachten, dass die meisten
Geschäfte schon um 17.00 Uhr schließen.

Wir fahren weiter nach Langenbielau, neben Peterswaldau der Hauptort der
Schlesischen Weberaufstände von 1844. Dabei müssen wir feststellen, dass
auch die Eulengebirgsbahn von Reichenbach nach Silberberg nicht mehr in
Betrieb ist. Auf dem Friedhof, neben der prächtigen Kirche, gibt es noch
einige deutsche Grabstellen: Wir lesen die Namen Fabrikant Knittel,
Rosenberger, Postpischil, Franz, Rasel.

Über Steinseifersdorf, wo wir ein gut erhaltenes Kriegerdenkmal aus dem 1.
Weltkrieg fotografieren können (leider ohne Namen), fahren wir zurück nach
Wüstewaltersdorf

Gute Reise und berichte noch einmal.Gru� Annegrete aus Bremen

-----Urspr�ngliche Nachricht-----
[mailto:niederschlesien-l-bounces@genealogy.net]Im Auftrag von Wolfgang
Leistritz

Wolfgang Leistritz schrieb:

Kenner von Bunzlau, gibt es das Denkmal heute noch?

Hallo Wolfgang,
ja, und zwar neu rekonstruiert und auf einer vorbildlichen Webseite ( www.kutuzow.zabytki.com.pl/ und deren Unterseiten, leider nur auf polnisch) erl�utert.

Folgende �berlegungen sind dabei legitim. Wenn eine, �ber Jahrhunderte in
einem Gebiet lebende Bev�lkerung ausgetauscht wird, was wird mit den Sagen,
M�rchen, Geschichten, Sitten und Gebr�uchen? �bernimmt die neue Bev�lkerung
die �berlieferungen oder werden neue erfunden? Ich habe die Hoffnung, dass
die alten �berlieferungen weiterleben. Meine polnischen Freunde haben mich
in dieser Auffassung bekr�ftigt.

Da die Zeit der M�rchen bei uns ja vorbei ist (es enstehen keine neuen mehr), ist das wohl eher eine Sache der Heimatforscher. Gl�cklicherweise wurde der deutsche M�rchenschatz in den beiden vergangenen Jahrhunderten vielfach (man denke z.B. an die oftmals parallelen Arbeiten der Gebr�der Grimm, von Wilhelm Hauff und Ludwig Bechstein) aufgezeichnet. Auch die schlesischen Oberlehrer waren in dieser Hinsicht sehr aktiv. Wenn Du Dich einmal genau erinnerst, kennst auch Du die schlesischen Volksm�rchen sicher nur noch vom Vorlesen aus dem M�rchenbuch und nicht mehr aus der m�ndlichen �berlieferung, der Traditionsbruch hatte also schon stattgefunden.

Sitten und Gebr�uche, Dialekte und Liedgut gehen immer dann verloren, wenn eine Bev�lkerungsgruppe zerstreut wird. Bleibt ihre Identit�t am neuen Ort erhalten, so retten sie sich noch �ber eine oder zwei Generation. Die ber�hmte schlesische K�che kann man davon sicher ausnehmen, da Kochrezepte heutzutage international gesammelt werden und ja auch f�r st�ndigen Nachschub aus Oberschlesien gesorgt ist.

Die neue polnische Bev�lkerung Schlesiens konnte die Sitten und Gebr�uche der fr�heren deutschen sicher nicht �bernehmen und hat da, wo sie l�ndlich geblieben ist, ihre eigenen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten mitgebracht.

Diese Erscheinungen sind �brigens nicht neu. Ich konnte sie an der ehemals deutschen Bev�lkerung der Sprachinseln des Trentinos ("Welschtirols") und Venetiens studieren, wo die deutsche Sprache schon im 19. Jahrhundert weitgehend verschwunden ist und unter Mussolini sogar verboten war. Die noch existierenden Sprachinseln von Giazza (Ljetzan) n�rdlich von Verona, in den vicentinischen "Dreizehn Gemeinden" (Lusern) und im Fersental (Palai) sowie die auf der italienischen Seite des Karnischen Hauptkammes gelegene von Sappada (Bladen) sind so zusammengeschmolzen und verk�mmert, dass eine organische Dialekt- und Brauchtumspflege und -reproduktion praktisch nicht mehr stattfindet. Auch dort sind sie zum Bet�tigungsfeld der s�dtiroler Oberlehrer und italienischen Linguistik-Professoren geworden.

Gr��e aus Hilden,
G�nther B�hm

Hallo Günther,
entschuldige, wenn ich erst jetzt auf Deine Nachricht vom 24.August
antworte.
Ich habe mir die polnische Seite zum Kutusow-Denkmal in Bunzlau angesehen.
Erstaunlich war, dass kein Wort oder Bild von dem großen Friedhof, der ja
auch den Namen Kutusows trägt, enthalten ist. Die ganze Seite ist in
Polnisch, nur der Literaturnachweis in Deutsch, wahrscheinlich irgendwo
abgeschrieben, denn es gibt da wohl ausschließlich deutsche Quellen.
Zum Thema Sagen, Märchen, Gebräuche:
Alles richtig, was Du schreibst, außer bei Sagen, die an einen bestimmten
Ort gebunden sind. Ich habe bei einer jungen Polin (die sehr gut Deutsch
spricht), ein deutsches Sagenbuch aus der Umgebung meines Geburtsortes
gesehen. Sie hat es mit großem Interesse gelesen. Irgendwann wird sie es
übersetzen und drucken lassen. Die neuen Bewohner des Eulengebirges werden
es, hoffentlich, mit Interesse lesen, da sie ja die beschriebenen Orte
besuchen können.
Also, der Sagenschatz von Schlesien könnte doch auch in Schlesien
weiterleben.
Bestes Beispiel ist Rübezahl!
Grüße aus Leipzig
Wolfgang

[mailto:niederschlesien-l-bounces@genealogy.net] Im Auftrag von Günther Böhm

Wolfgang Leistritz schrieb:

Alles richtig, was Du schreibst, au�er bei Sagen, die an einen bestimmten
Ort gebunden sind. Ich habe bei einer jungen Polin (die sehr gut Deutsch
spricht), ein deutsches Sagenbuch aus der Umgebung meines Geburtsortes
gesehen. Sie hat es mit gro�em Interesse gelesen. Irgendwann wird sie es
�bersetzen und drucken lassen. Die neuen Bewohner des Eulengebirges werden
es, hoffentlich, mit Interesse lesen, da sie ja die beschriebenen Orte
besuchen k�nnen.

Hallo Wolfgang,
sicher, aber es wird nicht viel anders sein, als wenn sie oder wir ein Buch �ber afrikanische Volksm�rchen lesen:
Sie sind - eigentlich schon seit Grimm, Hauff und Bechstein, Krylow und Lafontaine - Teil der Weltliteratur und nicht mehr die unmittelbare Weitergabe des Glaubens an Hexen und Zwerge, Nixen, Elfen und Riesen, den ich noch bei einer alten, heimatvertriebenen B�uerin w�hrend meines ersten Kartoffel-Ernteeinsatzes erlebt habe, von einer Generation an die n�chste.

Gr��e aus Hilden,
G�nther B�hm