Dazu:
Neuer Hausfreund, Evangelisch-lutherischer Volkskalender für das Jahr 1919
ab S. 61
Darunter auch ein Berichts eines Zgierzer Bürgers, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs in russ. Gewahrsam genommen wurde:
Am schlimmsten erging es sieben Zgierzer deutschen Bürgern und Fabrikbesitzern, die Ende August verhaftet wurden. Einer von ihnen, der Fabrikbesitzer Ferdinand SWATEK, berichtet über ihre Erlebnisse:
„Unsere Verhaftung erfolgter am 30. August 1914, eine Woche nach dem Abzug der ersten hier durchmarschierten deutschen Truppenabteilung. Mitten in der Nacht wurde ich nach der Polizei entboten. Nichts Schlimmes vermutend ging ich mit. Auf der Wache fand ich einige Mitbürger vor, die in der Folge mit mir ein gleiches Geschick teilen sollten: Frau KRAUSE und die Herren Hermann KRAUSE, Emil HOCH, Otto ERNST, Emil BERNECKER, Gustav BERNECKER und Roman MÜHLE.
Hier wurden wir von 12 Uhr nachts bis 7 Uhr morgens gehalten und am nächsten Tage mit der elektrischen Bahn nach Lodz gebracht. Am Nachmittage desselben Tages führte man uns vor den russischen Gendarmerierittmeister zum Verhör, das sich auf mancherlei erstreckte, was mit der Anwesenheit des deutschen Militärs in Zgierz zusammenhing.
Mir gegenüber blieb aber immer wieder die Grundfrage, was es mit dem Festessen für eine Bewandtnis gehabt hätte, das wir den Führern des deutschen Truppenteiles bereitet hätten. Ich erklärte, dass ich als Obmann der Zgierzer Bürgermiliz, dem die Sicherheit der Stadt am Herzen liegen musste, die Pflicht hatte, „mit den deutschen Truppen Fühlung zu nehmen“.
Herr Major BRAUNS forderte von mir Bürgschaft für die Sicherheit seiner Mannschaft, da er vermeiden wolle, dass sich bei einem etwaigen Vorfall die Kalischer Ereignisse wiederholen. Eine dahingehende Gewähr zu geben, war ich natürlich nicht imstande.
Im weiteren Verlaufe meines Gespräches mit Major BRAUNS erfuhr ich, dass er mit seiner Begleitung im Hause meines Freundes, des Zgierzer Fabrikbesitzers HOFFMANN, Quartier genommen habe. Als ich am Abend einen Spaziergang durch die Stadt machte und am Hause des Freundes vorüberging, wurde ich von Herrn HOFFMANN zum Abendessen mit den deutschen Herren geladen. Es war ein schlichtes Mahl und kein großartiges Diner, wie es in der Anklage gegen uns hieß. Nach der Anklage sollte auf das Wohl Kaiser Wilhelms getrunken worden sein. Wir wiesen die unsinnigen Beschuldigungen zurück.
Unsere Hoffnung, wieder freigelassen zu werden, verwirklichte sich nicht. Nach viertägigem Aufenthalt im Lodzer Kerker eröffnete uns Gefängnisinspektor MODELEWSKI, dass wir nach der „Tjurma“ in Warschau gebracht werden sollten. Unsere letzte Hoffnung auf baldige Freilassung war damit geschwunden. Ich allein bewahrte mir unbefangenen Sinn und sprach meinen Leidensgenossen Mut zu.
Zusammen mit anderen Verhafteten wurden wir in einer Anzahl von 17 Personen durch 23 Strashniks zur Kalischer Bahn gebracht und dort in einen Viehwagen verladen. Hier lernten wir zum ersten Male russische Gefangenenbehandlung kennen. Auf der Fahrt nach Warschau mussten wir uns zahlreiche Grobheiten gefallen lassen; besonders tat sich ein Zgierzer Gendarm in der Gehässigkeit gegen uns hervor.
In Warschau brachte man uns nach dem Polizeiarrest in der Nähe des Hotels Bristol; hier dauerte unser Aufenthalt gegen vier Wochen. Nach Ablauf dieser Zeit wurde uns ein amtliches Papier verlesen, wonach die Gendarmerie nichts Belastendes gegen uns gefunden habe, wir seien daher zur Verfügung des Petrikauer Gouverneurs JACZEWSKI gestellt. Trotzdem ich diesem von früher her durch gelegentliche Zusammenkünfte gut bekannt war, ordnete er meine und meiner Leidensgenossen Überführung nach Russland an. Nun brachte man uns nach dem Warschauer Arsenal auf der Dlugastrasse, wo wir uns vier Tage aufhielten; hier ging es uns schon weit schlechter als bisher. Wir mussten auf blankem Fußboden schlafen und hatten ungemein durch Ungeziefer zu leiden. Dann hieß es plötzlich, wir sollten nach Saratow gebracht werden.
Die Vorbereitungen zu unserem Abtransport gingen in überhasteter Eile vonstatten. Wir durften weder Gepäck noch unsere Barschaft mitnehmen. Die Oktoberkämpfe vor Warschau hatten ihren Höhepunkt erreicht und die Furcht vor dem deutschen Einmarsch war allgemein.
Wir wurden einem Transport von 468 Arrestanten einverleibt, der an diesem Tage über Moskau in das Innere Russlands abgeführt werden sollte. Auf dem Gefängnishofe wurden wir unter die gemeinen Verbrecher verteilt. Der ganze Zug, der sich aus Reihen von je sechs aneinander geketteten Sträflingen zusammensetzte, wurde mit einer Leine umschlungen. Zum Glück hatte ich meinen Freund KRAUSE zur Seite. Die uns begleitete Eskorte bestand aus einer großen Menge von Infanterie, Kavallerie und berittener Gendarmerie, die den Zug von allen Seiten in dichtgeschlossenen Reihen umgab. Der Gefangenentransport wurde nach dem Tiraspoler Bahnhof in Praga gebracht und hier in einen Arrestantenzug in Gruppen von je 40-44 Mann untergebracht. Als Verpflegungsgeld erhielten wir je 10 Kopeken für den Mann zugewiesen. Davon gaben wir dem Diensttuenden für Überlassung von Teewasser 2 Kopeken ab. Anderes Geld besaßen wir nicht und es ist daher begreiflich, dass wir in Pensa halbverhungert ankamen.
Die Fahrt dorthin dauerte acht Tage. Außer der Entkräftung durch mangelhafte Ernährung hatte uns das in den Wagen vorhandene Ungeziefer der menschlichen Würde beraubt.
Einen Vorfall auf dieser Fahrt möchte ich nicht unerwähnt lassen, da er für uns böse Folgen nach sich zog. Unser Zug hielt eines Tages auf offener Strecke und fuhr bald darauf in raschem Tempo zurück. Wir erfuhren, dass aus dem Arrestantenzuge dreizehn Mann entwichen waren, auf die man nun Jagd machte.
Die Flüchtlinge mussten ihr waghalsiges Unternehmen teuer büßen. Ihrer acht fielen dem auf sie eröffneten Gewehrfeuer zum Opfer, zwei wurden gefasst und nur dreien gelang es zu entkommen. Als der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, unterzog man sämtliche Wagen einer eingehenden Untersuchung nach verborgenen Waffen. Darauf band man je zwei Mann mit eisernen Handschellen aneinander. Achtundvierzig Stunden mussten wir in dieser Lage zubringen, was unsere Qual vollends erhöhte. Wir waren der Verzweiflung nahe.
In Pensa trafen wir zum Glück einen anständigen Polizeiinspektor an, der uns aus unserer unwürdigen Lage befreite, indem er zwischen den politischen und den gemeinen Verbrechern einen Unterschied machte. Auch erhielten wir kräftiges Essen. Unsere Leibwäsche wurde gereinigt und während sie zum Trocknen aushing, stellte man uns reine Arrestantenwäsche zur Verfügung. Dieser halbwegs menschlichen Behandlung erfreuten wir uns in Pensa vierzehn Tage. Dann ging es dem uns zugedachten Verbannungsorte Saratow zu.
Dortselbst angelangt, brachte man den ganzen Gefangenentransport in drei Gefängnissen unter. Die Abteilung, in der ein Teil meiner Genossen und ich mich befanden, wurde vom Bahnhof bis zum Gefängnis derart angetrieben, dass wir glaubten, unsere letzte Stunde sei gekommen. Wer vor Erschöpfung nicht mehr weiter konnte, erhielt Kolbenstöße, und ich bin heute noch fest überzeugt, dass mein Freund Emil HOCH, der in Russland sein Grab gefunden, nur an den Folgen der erhaltenen Schläge gestorben ist. Nach mehreren Tagen wurden wir in das Gouvernementsgefängnis übergeführt und dort in Einzelhaft gesetzt. Meiner Bitte, mit den Freunden zusammenbleiben zu dürfen, wurde nicht entsprochen. Später bekam ich als Zellengenossen einen deutschen Landmann aus Grojec, namens MELZER, zugeteilt; gemeinsames Leid verband uns bald zu inniger Freundschaft.
Im Saratower Gefängnis sollte meiner Leidensgeschichte der schwerste Abschnitt beschieden sein. Meine eigene Kleidung musste ich gegen Sträflingskleider eintauschen. Das uns aufgezwungene Tagewerk kennt man sonst nur als Sühne für schwere Verbrechen.
Täglich mussten wir den Fußboden unserer Zelle, der aus einer rauhen, getäfelten Masse bestand, mit kaltem Wasser reinigen, bis er blitzblank war. Wehe, wenn bei der Revision eine weniger saubere Stelle entdeckt wurde!
Das Kupfergeschirr, dessen wir uns bei unserem kargen Mahl bedienten, hatten wir dreimal am Tage rein zu scheuern. Für diese Reinigungsprozeduren stand uns aber weder Wasser noch Putzlappen zur Verfügung; wir mussten uns mit dem Rest unseres Trinkwassers und einem hundertfältig abgenutzten alten Lappen behelfen.
Fanden unsere Peiniger an dem Geschirr einen Fleck oder auf dem Fußboden ein Stäubchen, so gab es zur Strafe eine längere Kellerhaft oder man entzog uns die nächste Mahlzeit. MELZER nahm an einem Dezembertage das Handtuch zur Reinigung des Kupfergeschirrs. Unser Kerkermeister entdeckte bei der Untersuchung auf dem Wäschestück einige Flecke, wofür der Freund auf fünf Tage und Nächte in einen Keller bei Wasser und Brot gesetzt wurde. Vor der Einsperrung nahm man ihm seinen Pelz und die wärmenden Fußlappen weg. Als er wieder nach der Zelle kam, fiel er mir schluchzend um den Hals und erzählte, dass er während der ganzen Zeit vor Kälte kein Auge geschlossen habe.
Unser Essen bestand in der Regel nur aus einem dünnen Brei, in dem ein paar Körnchen Grütze schwammen, und einem Stückchen harten Schwarzbrot. Fleisch, das nur aus Abfällen bestand, gab es einmal in der Woche und dann auch nur in einer Menge von ungefähr vier Lot. Ins Freie wurden wir täglich nur eine halbe Stunde gelassen. Hierbei durften wir miteinander kein einziges Wort wechseln; als ich mich zum ersten Mal, aus Unwissenheit, gegen diese Vorschrift verging, erhielt ich von dem wachthabenden Strashnik mit dem Revolverkolben einen Schlag gegen den Kopf, so dass ich mich einer Ohnmacht nahe fühlte.
Es war uns sogar verboten, des Tages unserer Notdurft nachzugehen und nur bei Nacht wurde uns hierzu Möglichkeit gegeben.
Diese Höllenpein währte beinahe sechs Wochen. Ich magerte in dieser Zeit zum Skelett ab und glich einem Wilden. Endlich schlug für mich die Stunde der Erlösung, als ich am zweiten Weihnachtsfeiertage 1914 dank der Bemühungen meines Schwiegersohnes eine Depesche erhielt, die meine Freilassung bewirkte. Ich setzte mich später dafür ein, dass auch meine Freunde ihre Freiheit wiedererlangten.“