Ostpreußenblatt Januar 1955, Folge 01, Teil 1

Januar

Folge 01 vom 01.01.1955
Seite 5 Vom guten alten Hausarzt in Ostpreußen. Von Dr. Paul Schroeder, Dänischenhagen.
Marie Hensel, Seelsorger und Arzt zugleich.

Eine alte Königsbergerin sagte bei einer Nachkriegsbegegnung von ihrer Hausärztin in schlichter Dankbarkeit: „Wir hatten Fräulein Dr. Hensel dreißig Jahre lang als Husarzt. Sie behandelte mich, meinen Mann, meine drei Kinder und war uns Seelsorger und Arzt zugleich.“ Es durfte kaum einen schöneren und eindrucksvolleren Nachruf für einen guten Arzt geben. Aber es gibt auch trotz der Vielzahl von Hausärzten unserer ostpreußischen Heimat, deren wir uns mit Dankbarkeit erinnern, nur wenige, die in so hohem Grade eine solche Wertschätzung und Liebe verdienen wie Dr. Marie Hensel. Sicherlich können noch viele überlebende Königsberger das aus eigenen Einzelbeobachtungen bestätigen. Dennoch dürfte das ganze Ausmaß dieser seltenen Arztpersönlichkeit nur ganz wenigen bekannt geworden sein.

Denn Fräulein Dr. Hensel war kein Mensch, der es darauf anlegte, von sich reden zu machen; sie ging vielmehr zeitlebens allem aus dem Wege, was eine öffentliche Hervorhebung hätte nach sich ziehen können. Ihrer Art gemäß war vielmehr die alte Preußen-Devise „Viel leisten, wenig hervortreten“, aber sie hätte es zugleich zurückgewiesen, wenn man solche oder ähnliche Sprüche für sie in Anspruch genommen hätte. Es ist auffallend, dass gerade ein solcher Mensch in eine Zeit hineingestellt wurde, die dem Gegenteil huldigte und in kollektiven Massenideologien jede Einzelpersönlichkeit zu ersticken drohte. Doch gerade deshalb, weil das bei ihr nicht gelang, weil her die sittliche Kraft und die Eigenwilligkeit einer in sich gefestigten Persönlichkeit über jede nivellierende Tendenz der Allerweltsmenschen triumphierte, hat dieses 1949 geendete Leben eine so nachhaltige Wirkung auf alle diejenigen, welche darin Einblick nehmen konnten. Man kann es zur Ermutigung aller, welche den schicksalhaften Ablauf der Dinge mit wehmütiger Resignation betrachten und daran verzweifeln, dass dem Menschen von heute noch die Fähigkeit und Kraft zur Überwindung dieses Schicksals gegeben ist, unter das Wort einer großen deutschen Dichterin stellen: „Unbefangenheit, Gradheit, Bescheidenheit sind auch göttliche Tugenden.“ Mit diesen Tugenden versehen, hat Fräulein Dr. Hensel Übermenschliches geleistet.

Der Artname Hensel hat in Königsberg von der Jahrhundertwende bis zum tragischen Ende einen besonders guten Klang gehabt. Vor dem ersten Weltkrieg war Dr. Richard Hensel einer der begehrtesten Hausärzte besonders im Tragheim-Viertel. Er hatte seine Praxis Ecke Hohenzollernstraße und Steindamm und war bekannt durch ein gütiges, fast zu weiches Herz, das sich in dem Konflikt zwischen Mitleiden und nur begrenzter Möglichkeit zur Hilfe verzehrte. Krank aus dem Kriegssanitätsdienst zurückgekehrt, starb er 1919 einen frühen Tod, etwa zur gleichen Zeit, als seine sehr viel jüngere Schwester Marie sich auf dem Steindamm als Allgemeinpraktikerin niederließ. Sie war damals 38 Jahre alt und hatte eine sehr gründliche und vielseitige Ausbildung im Königsberger Städtischen Krankenhaus hinter sich. Früh schon von ihrer Berufung, Arzt zu werden, überzeugt, hatte sie mit zäher Ausdauer und Energie erst allerhand Hindernisse aus dem Wege räumen müssen, bis sie mit ihrer medizinischen Ausbildung beginnen konnte. So war sie erst Lehrerin geworden, hatte dann das Abitur als Extranea gemacht und damit die Voraussetzung für die Zulassung zum Medizinstudium erworben, was in jener Zeit nur wenigen Frauen unter Überwindung eines Waldes von Vorurteilen gelang.

Marie Hensel war aus wesentlich härterem Holz geschnitzt als ihr Bruder Richard. Was sie sich einmal vorgenommen hatte, das setzte sie auch durch, davon war sie weder im Guten noch im Bösen abzubringen. Ein Mensch aus einem Guss, manchmal eine etwas raue Schale hervorehrend und nicht gerade bequem für den, welcher etwas von ihr haben wollte, was sie nicht billigen konnte. Dann pflegte sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen, denn jene Unbefangenheit des Blickes und Gradheit des Wesens, von der als einer göttlichen Tugend die Rede war, gestatteten ihr nicht, auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen. Seltsam, selbst die extremsten Anhänger des von ihr kompromisslos abgelehnten nationalsozialistischen Regimes respektierten das und schlugen lieber einen Bogen um die unerschrockene Ärztin als dass sie sich auf weitere Forderungen versteiften. Un doch hatte „Tante Mieze“, wie sie befreundete Kollegen mit ebensoviel respektvoller Bewunderung wie liebevoller Kameradschaftlichkeit zu nennen pflegten, ebenso ein butterweiches Herz wie ihr früh vollendeter Bruder, und nur ganz Fernstehende konnten das zuweilen übersehen, wenn sie ihnen getarnt mit robuster Schroffheit entgegentrat. Denn sie konnte, wenn es sein musste, wie eine Löwin für das von ihr als recht Erkannte kämpfen, und ihr so gütiges, offenes Gesicht konnte bei solcher Gelegenheit, für Augenblicke nur, durch das eigenwillig gewellte, in alle Himmelsrichtungen strebende Haar sogar einen furiosen Ausdruck bekommen.

Dr. Marie Hensel hatte sich auf dem Steindamm eine sehr gute Praxis geschaffen und diese bis zur Zerstörung der Innenstadt durch den großen Bombenangriff in aufopfernder Weise geführt. Auch sie blieb wie ihr Bruder Junggeselle. Wo hätte sie auch die Zeit für eine eigene Familie hernehmen sollen, denn die gehörte doch ausschließlich ihren zahlreichen Patienten. Nicht nur des Verdienstes willen, sondern nur um ihrer inneren Berufung in noch größerem Rahmen zu dienen, übernahm sie die Privatklinik in der Vogelweide und damit einen gewaltigen zusätzlichen Pflichtenkreis. Hier war sie eine strenge und gerechte Herrin, die von sich selbst das Äußerste verlangte und dementsprechend auch dem Personal keine Nachlässigkeit durchgehen ließ. Dafür hat sie ihre Schwestern und Angestellten auch am Ertrag der Klinik beteiligt und eine Atmosphäre fröhlicher Kameradschaft trotz aller notwendigen Disziplin um sich geschaffen. Denn auch das gehörte zu ihrem Wesen. Sie liebte Heiterkeit und Geselligkeit in kleinem Kreise, und sie entspannte sich gern daheim beim Skatspiel oder Strickzeug oder buddelte emsig im Garten ihres Wochenendheimes in Neuhäuser. Meist aber waren es nur kurze Stunden, die sie dort verbringen konnte. Für sich selbst hatte sie wenig, für andere immer Zeit. Was sie sich an Erholung versagen musste, weil ihr Aufgabengebiet so groß war, das ließ sie anderen zu gute kommen. Fand sie in der Praxis jemand, der nur durch einen Erholungsaufenthalt richtig wiederhergestellt werden konnte, für den sich aber ein Kostenträger nicht finden ließ, meist waren das alte Damen, deren Existenzgrundlage durch die Inflation zerstört war, dann nahm sie diese Patienten als ihre Gäste in Neuhäuser auf. Denn tätige Hilfe gehörte nun mal zum Lebenselement von „Tante Mieze“. Mit kostenfreier Behandlung, wenn es nottat, begnügte sie sich nicht. Da wurde auch noch die Medizin und andere Heilmittel bezahlt, Pflegemittel beschafft, die Ausbildungskosten übernommen und Lehrstellen vermittelt. Sie fand immer neue Wege, anderen auf die Beine zu helfen, und sie tat das alles mit so bescheidener Selbstverständlichkeit, dass man meist Mühe hatte, wenigstens ein kurzes „Vergelt’s Gott“ zu sagen.

So stand „unser Fräulein Doktor“ als ein Soldat der Nächstenliebe überall ihren „Mann“. Wen nimmt es wohl wunder, dass in der Zeit der großen Bewährung, die dann kam, damals als die meisten von uns die bis dahin verborgenen Schwächen ihres Charakters hinter keiner Maske mehr verstecken konnten, dass Marie Hensel in unerschrockener Ruhe die blieb, die sie immer gewesen war? Schon bei den großen Luftangriffen, die ihr Heim und ihre Praxis zerstörten, trat das für jedermann deutlich hervor. Ein halbes Jahr später aber begann die Hauptprobe ihrer Lebenserfüllung. Wer sich ihr anvertraute, wer ihre Hilfe anrief, weil er körperlich oder seelisch Not litt, dem hielt sie die Treue bis zuletzt, mochte es auch ihre Kraft, ärztliche oder materielle Hilfe zu leisten, übersteigen und darum sinnlos erscheinen. Was die Leib-Sorgerin nicht schaffte, musste halt die Seelsorgerin übernehmen. Die Notwendigkeit gerade solcher Hilfe stieg im sterbenden Königsberg ins Unermessliche und rechtfertigte das Opfer aller derjenigen, welche ohne äußeren Zwang auf ihrem Posten blieben. Als man die damals schon 64jährige während der Einschließung der Festung mehrfach aufforderte, die Stadt auf dem Seeweg zu verlassen, machte sie ihre Zustimmung von der Gegenforderung abhängig, dass sie auch ihr Personal und ihre Kranken mitnehmen dürfte. Da man das nicht erfüllen konnte, blieb auch sie und harrte unerschrocken bei ihre Patienten aus, als die Russen in die Stadt einbrachen, ihre Klinik anzündeten und die Schwestern ihr in panischem Schreck davonliefen. Mit ihrer treuen Freundin, der Studienrätin Riewe, allein geblieben, rettete sie die im Keller der Klinik liegenden Kranken vor dem sicheren Verbrennungstod. Dann folgten die schwersten Jahre ihres Lebens mit unvorstellbaren körperlichen und seelischen Belastungen. Im Gebietskrankenhaus zunächst im Landesfinanzamt, später in der Barmherzigkeit hat sie mit aller Kraft ihres unerschrockenen Herzens den Leidenden zu helfen und die Sterbenden zu trösten versucht.

Mehr als zweieinhalb Jahre ausgefüllt mit Not und Grauen, in denen die ärztliche Leistung fast ausschließlich in Sterbehilfe bestand! Im Spätherbst 1947 aus der zerstörten Heimat ausgewiesen, begleitete die Unermüdliche den ersten Elendstransport von zweitausend Menschen in ein Lager in Thüringen und hielt dort aus, bis auch dieses der Auflösung verfiel.

Das irdische Schicksal hat Fräulein Dr. Hensel das alles nicht gedankt. Nach Westdeutschland gekommen, zerbrach sie fast an den bürokratischen Schwierigkeiten, die ihr eine unverständige Umwelt bereitete. Als sie sich endlich durchgesetzt hatte, stand am 14. Juni 1949 das müde gewordene Herz für immer still. Keine Tagespresse, keine Illustrierte hat fe von dieser Heldin der Stille berichtet, kein literarisches Zeugnis sie gefeiert, weder Orden noch Titel sind ihr verliehen worden. Aber was hätte das schon für eine Bedeutung in unserer schnelllebigen und schnell vergessenen Zeit gehabt! Die reportage-geborenen „Engel von …“ sind Eintagsfliegen wie die Sterne am Filmhimmel und die Sieger in den Sportarenen.

Marie Hensel aber hat die Spur ihres Erdenwallens in zahllose ostpreußische Herzen gegraben und, ebenso wie wir glauben, dass uns die Heimat nicht endgültig verlorengegangen ist, so sind wir auch der tröstlichen Gewissheit, dass Menschen dieser Art in uns fortleben und dereinst in unseren Nachkommen wieder auferstehen werden.

Seite 5 „Nicht mehr schön genug …“ Der Bundesgerichtshof weist Scheidungsklage ab
Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist wieder einmal sehr energisch gegen alle Männer geworden, die ihre „im Dienst für die Familie ergraute“ schuldlose Ehefrau gegen eine andere „eintauschen“ wollen. Ein jungverheiratetes Paar war durch die Kriegsereignisse getrennt worden. Der Mann hatte sich nach kurzer Kriegsgefangenschaft in Bayern niedergelassen und sich bei einer um elf Jahre älteren verwitweten Geschäftsinhaberin einquartiert. Seiner Frau war es erheblich schlechter gegangen. Sie wurde im Frühjahr 1945 nach Russland verschleppt. Dort gebar sie ihrem Mann noch ein Kind, das aber bald an Unterernährung starb. 1946 wurde sie nach der Sowjetzone entlassen. Es gelang ihr kurz darauf, über die grüne Grenze in den Westen zu fliehen. Die Gefangenschaft hatte ihr sehr zugesetzt und sie vor allem auch körperlich stark entstellt. Der Mann, der ein warmes Nest gefunden hatte, war über ihr Auftauchen nicht sehr erfreut. Er wollte mit der „hässlichen Frau“ nicht mehr zusammenleben. So klagte er bald auf Scheidung und trug dem Gericht vor, seine Ehe müsse als „Fehlehe“ bezeichnet werden, sie sei durch die besonderen Zeitverhältnisse so zerrüttet, dass sie zu scheiden sei

Vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht in Nürnberg ist er durchgefallen. Der Bundesgerichtshof hat nun auch seine Revision zurückgewiesen (IV ZR 75/54: „Es gehört zum Wesen der ehelichen Lebensgemeinschaft, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft ist, in der jeder Ehegatte das Los, das dem anderen zufällt, mit trägt.“ Bei der Entscheidung der Frage, ob einem der Ehegatten das Scheitern als Schuld zuzurechnen sei, dürfe nicht den äußeren Verhältnissen ein zu großes Gewicht beigemessen und die Zerrüttung auf das Schicksal zurückgeführt werden, wo im Grunde ein menschliches Versagen vor den vom Schicksal gestellten Aufgaben vorliege. Wenn die Ehefrau in ihrer schweren Leidenszeit in Russland Halt und Trost in dem Glauben gefunden habe, in dem anderen Ehegatten trotz äußerer Trennung einen ihr innerlich fest verbundenen Menschen zu besitzen und die Ehe für sie dadurch zum Inhalt ihres Lebens geworden sei, so dürfe die Ehe nicht geschieden werden, wenn die Frau sich nicht einer Eheverfehlung schuldig gemacht habe. Dr. jur. O. Gr.

Seite 5 Kein Kind der Liebe, aber doch ihr Kind. Der Ehemann darf die Frau deshalb nicht verlassen.
Ein Scheidungsprozess, der in der Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt hat, wurde dieser Tage vom Landgericht Hannover entschieden. Ein Vertriebener, der durch die Kriegs- und Nachkriegswirren von seiner Familie getrennt worden war, konnte erst im Mai 1952 die Anschrift seiner Frau ermitteln. Als er seine Frau erstmals besuchte, fand er ein Kind vor, das er nicht kannte. Der nunmehr achtjährige Klaus hatte einen russischen Soldaten zum Vater. Die Frau war beim Einmarsch der Roten Armee vergewaltigt worden.

Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten. Der tief bestürzte Ehemann erklärte sich zwar grundsätzlich bereit, wieder mit seiner Frau zusammenzuleben, er stellte jedoch zur Bedingung, dass das „Besatzungskind“ in ein Kinderheim gebracht werde. Die Frau, die an ihrem Kind sehr hing, konnte sich hierzu nicht entschließen. Darauf verließ der Mann sofort die Wohnung und fuhr noch am selben Tage ab. Trotz mehrfacher Schlichtungsversuche weigerte er sich, seine Frau bei sich aufzunehmen.

Das Landgericht Hannover hat nunmehr deshalb die Ehe aus Verschulden des Mannes geschieden. Die Richter aus Hannover haben zwar nicht verkannt, dass der Mann ohne sein Verschulden in einen schweren Gewissenskonflikt gekommen sei. Sie sind aber der Auffassung, dass dieser schwere Schicksalsschlag nicht nur den Ehemann, sondern mindestens ebenso schwer auch seine Frau getroffen habe, welche die seelischen Qualen der Vergewaltigung und die Schwere der Gedanken über das Erlebte bis zum Wiedersehen mit dem eigenen Mann allein habe ertragen müssen. Tausende wehrloser Frauen habe nach dem Zusammenbruch der Ostfront und der Besetzung weiter Gebiete deutschen Landes durch die Rote Armee ein derartiges Los getroffen. „Die Mehrheit des deutschen Volkes hat daher auch Verständnis für solch einen Schicksalsschlag und erblickt darin nur die Tragik eigenen Geschehens, nicht aber eine unzumutbare Demütigung der betroffenen Ehemänner.“ Der Mutter könne auch nicht vorgeworfen werden, dass sie im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe nicht auf ihr Kind verzichten wolle. „Die Mutterliebe muss immer noch als das höchste, natürlichste und heiligste Gefühl anerkannt werden. Es kann deshalb einer Mutter niemals zum Vorwurf gereichen, wenn sie sich in Liebe für ihr Kind für dieses entscheidet.“ Dr. jur. O. Gr.