Ostpreußenblatt, Folge 52 vom 24.12.1955, Teil 2

Seite 3 „Ihr habt alle keine Zeit …“ Immer auf der Jagd nach einem besseren Leben:
Was denken die im Oktober Heimgekehrten über uns und unsere Zeit? Von Peter Marquardt
In diesem Beitrag werden – über die allgemeine Friedland-Berichterstattung hinaus – einige grundsätzliche Meinungen unserer Heimkehrer wiedergegeben, die für die Meinungsbildung auf politischen, wirtschaftlichen und kulturellem Gebiet von Bedeutung sind.
Die Männer und Frauen, die im Oktober aus der Sowjetunion kamen, sind jetzt einige Wochen bei uns. Was sagen sie?
Zunächst sind sie dankbar. Ihre Dankbarkeit hält noch Wochen nach der Entlassung an Sie danken uns allen dafür, dass wir sie nicht vergessen haben in den langen zehn Jahren, dass wir ihnen Pakete schickten, dass wir sie mit einem Wort teilhaben ließen. Aber diese Menschen sind kritisch. Sie hatten ein Jahrzehnt Zeit zum Nachdenken. Neben unseren Paketen und neben aller gemeinsamen Sehnsucht nach der Heimat, war das einzige was sie „drüben“ stärken und zur Gemeinschaft zusammenschließen konnte, die Kameradschaft, Ehre und Vaterlandsliebe, Begriffe, die bei uns altmodisch zu werden beginnen, sind diesen Männern jahrelang tägliche Realität gewesen. Nur so war es ihnen möglich, dem Tode, der Hoffnungslosigkeit, der Taiga und Sibirien ins Auge zu sehen — zehn Jahre lang. Ihre Körper sind bis zum letzten Quentchen Energie ausgebeutet und ihre Seelen ausgebrannt. Es sind harte Männer, die zu uns gekommen sind.
Die Heimkehrer haben sich die Heimat anders vorgestellt als sie sie jetzt antrafen. Die Sehnsucht nach Frau und Kind, Geborgenheit und Familie, Güte und Liebe, haben die Erinnerung in ein rosiges Licht getaucht, verschönt und bunt gefärbt. Und mit diesen Sehnsüchten, Hoffnungen und Erwartungen sind sie heimgekehrt in unsere Wirklichkeit des Jahres 1955. Das gab den meisten von ihnen einen schweren seelischen Schock. Das drückt einer von ihnen so aus: „Ich bin von einem Fünf-Meter-Brett ins Wasser gesprungen und das Wasser hält mich jetzt noch umfangen." Sie können diese Eindrücke, die täglich immer neu auf sie einstürmen — noch — nicht verarbeiten. Was das heißt? Nun, man musste ihnen verdolmetschen, was das heißt: H-Linie, Nylon, Moped, Coca Cola. Und erst allmählich wissen sie, dass Schuhe ohne Schnürsenkel Slipper heißen. Windjacken Lumberjacks, Regenmäntel Duffleccats. Sie kennen weder die rührseligen Prinzessin-Margaret-Geschichten noch die Film- und Sportidole unserer Jugend.
Die Ellenbogenmenschen
Was sagen sie über uns und unsere Zeit? „Ihr habt alle keine Zeit." — „Mein stärkster Eindruck: die hier herrschende Nüchternheit, Rücksichtslosigkeit und Härte." — „Die Ellenbogenmenschen kassieren den Hauptanteil am Kuchen. Der Arbeitsplatz ist zum Job geworden. Die starke Amerikanisierung ist unverkennbar." — „Das soll Reklame sein? Ich dachte, Kinder hätten einen Bauzaun bepinselt." — „Eine zivilisierte, hochentwickelte Bürokratie." — „Tief beeindruckt vom Wiederaufbau und vom regen wirtschaftlichen Leben."
— „Gebäude, die man von früher her kannte, stehen nicht mehr oder sind durch Neubauten ersetzt. Es ist alles ganz anders, als ich dachte."
— „Wir sind überrascht, in wie viel Dutzend Formblättern und Karteien wir bereits wieder .erfasst' sind. Eine ungeheuer komplizierte Verwaltungsmaschinerie bei keineswegs unfreundlichen Beamten." — „Junge Mädchen tragen knielange Hosen. Die Männer enge Hosen, kurze Mäntel, kaum länger als ihre Jacken und Sakkos, die wie Säcke herabhangen. — Ich wohne in einem abbruchreifen Haus, das bald geräumt werden muss. Man hat doch gewusst, dass ich komme, jetzt erst beginnen die Ämter sich um meine Angehörigen zu kümmern " — „Unglaubliche Zunahme des Verkehrs Neubau von Wohnungen und der hohe Lebensstandard beeindruckten mich am meisten " - „Weshalb tragen die Polizeibeamten in unserem Land alle hundert Kilometer eine andere Uniform? — ..Die mit zwölf bis vierzehn Jahren bereits von einer überraschenden Selbständigkeit. Die Ansprüche, die heute von de Jugend gestellt werden sind für mich Neuland." - „Man müsste doch errechen können, dass die Stadt einen Raum mietet in dem von jeder Behörde ein Vertreter anwesend ist. Wir müssen viele Angaben zigfach wiederholen. Weshalb die viele Lauferei?“ – „Alles kauft auf Raten. Das kenne ich von früher her nicht.“ – "Wie ein Bäuerlein vom Lande kommt man sich als ehemaliger Großstädter vor.“ – Hier gilt der Anzug, nicht was drin steckt.“ – Das Leben hält hier ständig Neuigkeiten bereit und lässt uns von einer Überraschung zur nächsten taumeln.“
Die Unzufriedenheit
„Was muss eigentlich noch geschehen, damit die Menschen zufrieden sind?“, fragte ein Heimkehrer. „Bei vielen, denen es persönlich gut bis sehr gut geht und die das auch zugeben, ist eine allgemeine Unzufriedenheit weit verbreitet.“ Und ein anderer hält etwas fest, was wir uns alle einmal vorgenommen hatten und was wir schon wieder vergessen haben: „Und wir dachten in der Gefangenschaft, dass unser Volk auf Grund der schlechten Erfahrungen in zwei Weltkriegen zu Hause nur noch in den Tag hinein und von der Hand in den Mund lebt. Wie froh bin ich, dass wir uns getäuscht haben.“ Dinge die uns kaum noch berühren, werden zu Problemen. Ein Beispiel: In einem vorzüglich geleiteten Sanatorium wurden Heimkehrer untergebracht. Man umsorgte sie, es fehlte ihnen an nichts. Nur ein winziger Stacheldraht störte. Man hatte die Blumenrabatten mit einem einfachen kniehohen Stacheldraht umgeben. Die Heimkehrer rissen ihn eigenhändig heraus. Sie konnten keinen Stacheldraht mehr sehen. Kleinigkeiten für den Normalverbraucher – Probleme für den Heimkehrer.

Die weit vorangeschrittene Technisierung und Modernisierung auf allen Gebieten beeindruckt die Heimkehrer immer wieder besonders stark. Oft bleiben sie im Verkehrsgewühl, das sie unsicher macht, stehen und bestaunen die immer neueren Autotypen, Motorroller, die sie noch nie sahen und die Kleinautos, die sie anfänglich für Kinderspielzeuge reicher Kinder hielten. Sie haben festgestellt, dass unsere Geschäfte im Gegensatz zu früher Glas und nochmals Glas als Baustoff und Dekorationselement bevorzugen. Sie empfinden die Kinoreklame als marktschreierisch, die überall vorherrschenden bunten Farben zu grell, die Werbung im Ganzen gesehen zu aufdringlich, und die Preise sind für sie völlig ungewohnt.
Ämterdünkel, Luxus
Sie bescheinigen den Westdeutschen immer wieder, dass sie alle zu sehr auf der Jagd nach dem Glück seien und sich von der Hast auffressen ließen. „Wir sind in Sibirien stiller geworden und zielsicherer. Und wir haben den Leuten hier das Wissen voraus, dass Glück schon etwas ist, was nur im Menschen selber liegt und nicht im hohen Lebensstandard. Der Deutsche scheint heute sein Auto, seine Familie und sein Glück auf Raten zu kaufen. Die allgemeine Stimmung ist hektisch." — „Es scheint neben dem Job nur noch Hobbys zu geben, das Gegenteil von Geist. Ämterdünkel, Überheblichkeit und Titelsucht grassieren. Der Luxus unseres öffentlichen Lebens ist überraschend — Luxusautos, Luxuslokale und Luxusfrauen." — „Als kleiner Junge wollte ich immer mal nach Amerika, weil dort alles so schrecklich fortschrittlich sein sollte. Heute komme ich mir so vor, als ob ich dort wäre." — „überall Kritik kleinlicher Art, spießiger Egoismus, weitverbreitet das Gefühl eigener Wichtigkeit." — „Der hohe Lebensstandard wird allerdings überschattet von der Lage der Rentner." — „Ich benötigte einige Zeit, bis ich mir zutraute, allein über die Straße zu gehen. Man sieht gar keinen .Arbeiter mehr. Alle sind elegant gekleidet.* — „Hastigkeit und Nervosität scheinen mir die Hauptmerkmale zu sein. Alles ist unentwegt auf der Jagd nach einem besseren Leben."
Vergessen wir nicht: den Heimkehrern lief die Zeit davon. Sie müssen ein zehnjähriges schwarzes Loch mit Informationen anfüllen, Dinge, die wir uns an den Stiefelsohlen abgelaufen haben. Sie sprechen ganz einfach von Deutschland, es erscheint ihnen nichts selbstverständlicher als die Wiedervereinigung. Sie fragen besorgt, ob auf dem Boden unseres fast ausschließlich materiell-wirtschaftlichen Wiederaufbaues auch eine Idee gewachsen ist, die man dem Bolschewismus entgegenstellen kann. Fast allen fällt auf, dass unser relativ gutes Leben die Bewohner der Bundesrepublik im Gegensatz zum Osten zu völlig unpolitischem Denken geführt hat. Sie bekennen sich nahezu ausnahmslos leidenschaftlich zu Europa, in einer Zeit, da die Berufs-Europäer ihre alten Manuskripte vorlesen und die Nüchternen, Europa auf das Jahr 2000 vertagt haben.
Verzweifelter Existenzkampf
Das dringendste Anliegen, das der Heimkehrer an die Wirtschaft hat, ist ein Arbeitsplatz. Alle wollen endlich am Wiederaufbau ihrer Heimat mitwirken. Man hat ihnen in Friedland offiziell gesagt, dass sie nicht zu spät kämen. Ist das so? Sind die Heimkehrer denn unseren rationalisierten Methoden des modernen Existenzkampfes gewachsen oder müssen sie zunächst vor den Anforderungen der Betriebsführung von heute zunächst versaufen? Sie wollen kein Mitleid, aber sie brauchen Zeit. Zeit und Geduld zur Umstellung und Anpassung, unmerkliche Hilfe von Arbeitskollegen und die stille unaufdringliche Begegnung von Mensch zu Mensch. Mit Geld, Wohnung, Kleidung und Arbeitsplatz allein ist es nicht getan. Wir müssen ihnen die seelische Brücke zwischen Gestern und Heute bauen helfen. Vergessen wir nicht: einige von den soeben Heimgekehrten sind nicht am Krieg und nicht an der Gefangenschaft, wohl aber an den Schwierigkeiten der Heimat, zerbrochen. Heute noch sind von den 1953/54 Heimgekehrten knapp tausend (bei zehntausend Heimkehrern) ohne Arbeitsplatz. Viele von ihnen führen einen verzweifelten Existenzkampf. In der Statistik der Bundesarbeitsverwaltung werden ständig sechstausend bis siebentausend arbeitslose Heimkehrer geführt. Das ist keine konjunkturbedingte, sondern eine Dauerarbeitslosigkeit. Es sind Männer, die vor ihrer Einberufung noch ohne Beruf waren („Abiturient mit Osterfahrung“), Kranke, Versehrte, ältere Angestellte, Bewohner der Randzonen unserer Konjunktur (Bayrischer Wald, Berlin, Schleswig-Hostein, Zonengrenzgürtel). 126 000 Heimkehrer-Familien suchen Ende des Jahres 1955 eine Wohnung! Der Verlust von Zeit und Erfahrung durch die lange Gefangenschaft lässt sich praktisch kaum aufholen. Besonders schwierig sind die freien Berufe: „Wer wird einem Bildhauer etwas abkaufen, meine Finger sind ungelenk und steif geworden vom Bäume fällen." — „Wer vertraut sich schon einem Rechtsanwalt an, der vor zehn Jahren seinen letzten Mandanten verteidigt hat?"
Der Existenzkampf ist in der Nachkriegszeit in einem Ausmaß härter geworden, das die Heimkehrer erschreckt. Die unverbrauchten nachdrückenden Jahrgänge drücken das Arbeitstempo und bestimmen das Zeitmaß. Wer wird einem Sechzigjährigen eine feste Stellung anbieten, der für eine Umschulung zu alt ist und in einigen Jahren ohnehin pensionsreif ist? Oder ein Alltagsfall: 1939 Abitur, Soldat, zehn Jahre Gefangenschaft. Wenn dieser Heimkehrer jetzt sein Jura-Studium beginnt und in sechs Jahren vielleicht sein Examen macht, dann ist der „junge Mann" vierzig Jahre alt, aber die Altersgrenzen im öffentlichen Dienst liegen fest, dabei sind zehn Jahre Russland nicht mit eingeplant. Die 131er, die Jüngeren mit fertigen Berufserfahrungen, die Älteren, die Mangelberufe haben — sie werden leicht vom Arbeitsmarkt aufgenommen. Aber die anderen? Vergessen wir nicht, dass es heute schon viele Heimkehrer gibt, die sich nachts im Bett herumwälzen und über die Frage nachgrübeln, wie sie in einem halben Jahr ihre Miete bezahlen sollen!
Die Herzen der Heimkehrer dürfen von uns nicht enttäuscht werden. Sie müssen ihren Platz an unserem Tisch erhalten. Denken wir daran, wenn die kommenden Heimkehrer in Herleshausen ihre Omnibusse besteigen und die Glocken von Dorf zu Dorf zu läuten beginnen. Ihr Klang begleitet unsere Kameraden bis nach Friedland. Es gibt dort bei diesen unendlich vielen Gesten dieser Tage kein „Dankeschön" und kein „Bitteschön". Es ist alles so klar, so selbstverständlich, so ohne Worte. Wir alle fühlen es wohl: wir gehören zusammen, wir sind eines, wir sind ein Volk, und für wenige Tage sind wir sogar wieder eine Nation. Wenn sich in Friedland der Schlagbaum hebt, schlägt das Herz Deutschlands. Versuchen wir etwas davon in unseren nüchternen Alltag hinüberzuretten.
Volk ohne Zeit
Unser aller Gefangenschaft begann mit der Wegnahme der Uhr. Seitdem ist unser Volk ohne Zeit. Nur wenn sich an der deutsch-deutschen Grenze der Schlagbaum hebt, beginnt die Uhr unserer Nation für Tage wieder zu ticken. Aber schon nach kurzer Zeit, wenn die Schlagzeilen vergessen sind, wenn die Zeitungen mit den Heimkehrerberichten beim Altwarenhändler liegen, wenn die Wochenschau-Eindrücke von den „Heide-Alpen-Filmen" zugedeckt werden, wenn die Heimkehrer — wie Generationen Heimkehrer vor ihnen — nicht mehr „aktuell" sind, wenn die Wirtschaftswunderkinder ihr Überstundensoll für Eisschrank und Italien-Reise leisten, wird dieses für eine Geschichtssekunde Nation-Sein der Deutschen dort in Friedland nur noch Archivmaterial der westdeutschen Verbraucher-GmbH sein.
Es wird nicht zuletzt auch an den jetzt aus Krieg und Gefangenschaft Heimgekehrten liegen, ob sie genügend Sauerteig-Willen von drüben mitbrachten, um dafür zu sorgen, dass Wiedervereinigung unseres Vaterlandes vor sozialer Sättigung zu gehen hat, dass menschlich-sozialer Flugsand nicht zum politischen Flugsand wird, dass beim hemmungslosen Kampf um vollere Lohntüten Berlin und Leipzig, Weimar und Workuta nicht vergessen werden, wo zu dieser Stunde noch viele tausende Deutsche sich in Sehnsucht nach dem Schlagbaum an der deutsch-deutschen Grenze im Werretal verzehren.

Seite 3 Heimkehrertransporte laufen
Sowohl im sowjetzonalen Entlassungslager Fürstenwalde als auch direkt in Herleshausen und Friedland trafen in der vorigen Woche eine Reihe neuer Transporte von Heimkehrern ein. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe sind noch einige weitere Transporte unterwegs. Heimkehrer, die am letzten Freitag in Friedland ankamen, berichteten, dass ihnen die sowjetischen Bahnbeamten erzählt hätten, es seien neben ihrem Transport noch drei weitere Züge mit Heimkehrern, ehemaligen Soldaten und Zivilinternierten im Anrollen. Bereits am Mittwoch war in Fürstenwalde ein Transport von 150 früheren Soldaten und rund 340 Zivilinternierten eingetroffen. Diese berichteten, dass während der siebenwöchigen Unterbrechung der Entlassungsaktion im Lager Swerdlowsk noch fünf Gefangene gestorben sind. 155 Heimkehrer aus diesem Transport begaben sich nach Herleshausen und Friedland, 94 direkt nach Westberlin. Bei diesem Transport befand sich auch Generalvikar Dr. Aloys Marquardt vom Bistum Ermland. Die Namen der inzwischen eingetroffenen ostpreußischen Heimkehrer bringen wir, soweit sie bisher festgestellt werden konnten, in dieser Folge. In einem Transport von 608 ehemaligen Soldaten und Zivilinternierten, der in Friedland empfangen wurde, befanden sich u. a. der frühere Lufthansadirektor Luz, der 1945 in Berlin verhaftet wurde, ferner der spanische Kapitän Roca, der nach seinen Angaben der letzte Angehörige der spanischen Blauen Division war, der noch in sowjetischer Gefangenschaft weilte. Zum Empfang dieser Heimkehrer hatte sich unter anderen der päpstliche Nuntius Erzbischof Muench eingefunden, der den Heimkehrenden die besonderen Glücke und Segenswünsche auch des Papstes übermittelte. Einige Heimkehrer erklärten, zum Jahresende sei auch mit der Rückführung von mehreren hundert Gefangenen zu rechnen, die die Sowjets als sogenannte ,Schwerkriegsverbrecher" bezeichneten und die sie nicht formell entlassen wollten, sondern der Bundesregierung zur Überprüfung der Fälle übergäben.
Der Suchdienst des Roten Kreuzes hat inzwischen mitgeteilt, dass er lange Listen der sogenannten Spätverschollenen zusammengestellt hat. Hier handelt es sich um jene Gefangenen, die in den Jahren 1947 bis 1953 ihren Angehörigen noch geschrieben hätten oder die von Kameraden in dieser Zeit nachweislich noch gesehen wurden. Man hoffe, dass nicht alle von ihnen ums Leben gekommen seien. Es solle alles geschehen, um auch jene Deutschen wieder in die Heimat zurückzuführen, bei denen die Sowjets die Staatsangehörigkeit bezweifelten und die zunächst als Sowjetbürger behandelt wurden. Eine Reihe der in Russland Zurückgebliebenen wohnte wohl auch so verstreut, dass sie keine Möglichkeit gehabt hätten, sich irgendwie zu melden. Zurzeit sind beim Roten Kreuz nahezu hundert geschulte Kräfte damit beschäftigt, diese menschlich so wichtige Aufgabe zu lösen.

Seite 4 Die letzten Wochen
Wieder steht Friedland im Mittelpunkt des Geschehens. Am 20. Oktober dieses Jahres war auf einen sowjetischen Befehl hin die angelaufene Großaktion zur Rückführung der letzten deutschen Gefangenen und Zivilverschleppten aus der Sowjetunion urplötzlich abgebrochen worden. Verzweifelt warteten die Angehörigen auf ihre Heimkehrer, die ihre Rückkehr teilweise bereits durch Telegramme angekündigt hatten.
Noch verzweifelter waren allerdings die Heimkehrer selbst, die bereits seit Tagen in ihren Güterzügen auf dem Weg in die Heimat rollten und dann plötzlich, gänzlich unerwartet, gestoppt und auf ein Abstellgleis geschoben wurden. Oder die zur Abfährt bereit standen, die man schon zu „freien deutschen Bürgern" erklärt hatte, die ohne Bewachung ausgehen durften, und die man nun wieder in Lager einsperrte und zurückhielt.
Als am 13. Dezember innerhalb zwölf Stunden zwei Transporte aus der Sowjetunion in Friedland ankamen und als damit endlich das Wieder anlaufen der Entlassungsaktion begann, da erfuhren die Tausende, die sich trotz eisiger Kälte zum Empfang eingefunden hatten, dass diese letzten acht bis neun Wochen die schwerste Zeit der über zehnjährigen Gefangenschaft für die Heimkehrer gewesen sind.
Die 597 ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, die am 13. Dezember überglücklich in Friedland eintrafen — inzwischen sind es viel mehr geworden —, waren bereits am 10. Oktober 1955 aus dem Entlassungslager 5110/22-28 Swerdlowsk abgefahren. Nach vier Tagen, als der Transport bereits 120 Kilometer westlich von Moskau war, kam der zunächst noch gar nicht fassbare Befehl, den Transport sofort zu stoppen. Auf der Station Moschajsk war die Fahrt in die Heimat zu Ende.
Als die deutschen Landser dann ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpacken mussten, als sie noch schlaftrunken aus ihren molligwarmen Waggons mit überheizten Öfen in die Nacht hinaustorkelten und sich dann in einem gerade von sowjetischen Frauen geräumten Barackenlager, das mit Stacheldraht umgeben war und von Posten mit Hunden bewacht wurde, wiederfanden, da kam ihnen so recht zum Bewusstsein, wie sehr sie der Freiheit, der Heimat, dem Zuhause entgegengefiebert hatten.
Warum durften sie, die doch „freie Bürger" waren, nicht nach Hause fahren? Warum wurde der Transport so plötzlich gestoppt? Immer wieder fragten sie es sich, immer wieder verlangten sie Aufklärung von den sowjetischen Dienststellen. Ein Vertreter des sowjetischen Innenministeriums erklärte ihnen dann, Adenauer habe die seinerzeit in Moskau eingegangenen Verpflichtungen nicht eingehalten.
Die nervöse Spannung, die fieberhafte Unruhe unter den Heimkehrern blieb auch, obwohl sie keine Kriegsgefangenenverpflegung, sondern russische Militärverpflegung erhielten, obwohl sie die Möglichkeit hatten, täglich im Lager Kinovorstellungen zu besuchen, obwohl sie äußerst vorsichtig behandelt wurden und obwohl man ihnen versicherte, der einmal vom Obersten Präsidium der Sowjetunion gegebene Befehl würde unbedingt eingehalten werden.
Niemand arbeitete im Lager, die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Alle hofften, hofften. Die Tage wurden zur Ewigkeit, bis endlich, endlich am 8. Dezember die Fahrt in Richtung Westen fortgesetzt wurde. Vier Kameraden blieben in letzter Minute zurück, einer musste zur Operation, die drei anderen sollten noch einmal „überprüft" werden. Es war ein erschütternder Abschied von ihnen.
Dann ging es ohne Pause gen Westen. Tränen der Rührung und der Freude standen den leidgeprüften Männern in den Augen, als sie auf dem großen Lagerplatz in Friedland das erste Vaterunser voll Inbrunst beteten und aus überglücklichem, dankbarem Herzen sangen: „Nun danket alle Gott."

Seite 4 Das Schicksal des Generalvikars Dr. Marquardt aus Frauenburg. Heimkehr zu Weihnachten
Kaum einer unserer Leser dürfte wissen, wo Alexandrowsk liegt. Und wenn wir hinzufügen, Alexandrowsk sei bei Irkutsk, an der Südspitze des Baikalsees zu suchen, so bringt auch das noch keine rechte Vorstellung. Vielleicht kommt sie uns, wenn wir erfahren, das Irkutsk auf der geographischen Breite von Köln liegt und von Köln soweit entfernt ist wie Kapstadt oder Chicago, im östlichen Teil von Sibirien an der Grenze der Äußeren Mongolei, und nach China ist es nur noch ein Katzensprung von tausend Kilometer . ..
Dort also, in Alexandrowsk bei Irkutsk, in einer mit dreißig Männern — Kriminellen und politischen Häftlingen — belegten Gefängniszelle saß fast zehn Jahre lang der Generalvikar des Bistums Ermland, Dr. Alois Marquardt.
Seinen Bischof, den Bischof Kaller, hatte Hitlers Gestapo verschleppt. Als die Sowjets nach Frauenburg kamen, war nur noch der Generalvikar dort, der mit den wenigen noch verbliebenen Gliedern seiner Gemeinde auszuharren gedachte. Aber er wurde aus Amt und Heimat verjagt.
Den größten Teil des Weges nach Berlin ist Dr. Marquardt damals zu Fuß gegangen. So kam er im Spätsommer 1945 in der Viermächtestadt an. Zerlumpt, barfuss, verhungert am Rinnstein hockend, wurde er von einem Konfrater erkannt und in ein Tempelhofer Krankenhaus gebracht.
Darüber, wie er von Berlin nach Moskau kam, soll hier und jetzt nicht gesprochen werden. In Moskau folgten endlose Verhöre. Einmal drehten sich die Fragen um das Archiv des Bistums mit seinen wertvollen historischen Dokumenten (zum Beispiel über Kopernikus), dann um die turnusmäßigen Berichte, die das Bistum wie alle Bistümer der katholischen Welt dem Heiligen Stuhl in Rom erstattete und deren Kopien in Moskau vorlagen. Nie wurde dem Generalvikar klar, wessen man ihn eigentlich beschuldigte; er gewann den Eindruck, das sei auch denen, die ihn verhörten, nicht klar. Schließlich wurde er mündlich und ohne Begründung zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Leidenszeit in Alexandrowsk begann.
Der Gefangene durfte nicht schreiben, und so erreichte ihn weder ein Brief noch ein Paket. Über die Ernährung brauchen wir kein Wort zu verlieren. Dr. Marquardt wurde todkrank und lag lange Zeit im Gefängnislazarett.
Es gab kein Radio und nur hin und wieder einmal eine SED-Zeitung, die natürlich kein Bild von den Verhältnissen und der Entwicklung in Europa gab. Oder-Neiße-Grenze? Was ist das? Deutschland an der Oder zu Ende? Einfach unvorstellbar — und so kann es geschehen, dass der Zurückgekehrte im Dezember 1955 sagt: „Nun will ich aber gleich nach Frauenburg schreiben, denn dort sind doch noch viele meiner Sachen zurückgeblieben...!"
Härter war das Schicksal Dr. Marquardts als das manches Lagerhäftlings. In den Lagern gab es wenigstens Arbeit, mochte sie noch so schwer sein.
Erst im Frühjahr dieses Jahres erhielt der Generalvikar Schreiberlaubnis. Dreißig Pakete sind damals sogleich von allen Seiten nach Alexandrowsk abgegangen. Nur vier erreichten ihn dort. Gerade hatte er sie, umringt von den Mithäftlingen, geöffnet, als es hieß: Rasch zusammenpacken, mitkommen!
2700 Kilometer ging es westwärts, nach Swerdlowsk am Ural. Das Lager in Swerdlowsk brachte Dr. Marquardt einen Vorgeschmack auf die Freiheit. Hier bekamen alle Pakete, hier erhielt man ein wenig Bargeld, um sich zusätzlich etwas kaufen zu können, hier gab es Bücher, hier standen Radiogeräte in den Baracken.
Am Radio erlebten die Gefangenen den Besuch Adenauers in Moskau, über die Wochen, die diesem Besuch folgten, diese Wochen, wechselnd zwischen Hoffnung und Zweifel, Glückstaumel und tiefer Niedergeschlagenheit, ist schon genug berichtet worden. Eine harte Probe auch für den nun vierundsechzigjährigen Generalvikar. Mancher hat sie nicht überstanden, manch einen, so wissen wir heute, traf der Schlag in jenen Tagen, da plötzlich die Transporte in die Heimat angehalten und zurückgeleitet wurden.
Endlich kam auch Dr. Marquardt an die Reihe, er reiste mit neununddreißig Kameraden in einem Güterwaggon, den drei dreistöckige Pritschenetagen ausfüllten. Zwei Öfen hatten sie im Wagen und genügend Brennholz.
Am 15. Dezember kam Dr. Marquardt, Generalvikar des katholischen Ermlands, in Berlin an. Er trug die übliche Russenmütze, er trug eine Trainingshose aus einem der Pakete, die ihn noch erreicht hatten. Die gebrochene Brille war mit Leukoplaststreifen geklebt. Ein kleines Köfferchen aus Korbgeflecht barg seine armselige Habe.
Der hochgewachsene Mann hält sich aufrecht, aber es fällt ihm schwer; in Augenblicken, da er sich unbeobachtet glaubt, fällt er in sich zusammen. Sein Gesicht trägt die uns allzu bekannten Spuren von Entbehrungen, er hat Wasser in den Beinen.
Als einer der ersten besuchte ihn der Generalvikar des Bistums Berlin, im Übrigen wehrt er alle Besucher ab. Später, später, lässt er ihnen bestellen. Er ist krank, er ist müde. Aber nicht zu müde, um sich sofort nach der Ankunft hinzusetzen und über ein Dutzend Briefe zu schreiben. Briefe an Angehörige von Kameraden, die bisher noch zurückbleiben mussten. Diese Pflicht ist heilig. Dann erst das erfrischende Bad, dann erst die gründliche Untersuchung im Krankenhaus.
Dr. Marquardt wohnt bei Verwandten in Steglitz, in der Nähe der Schloßstraße, dieser illuminierten Weihnachtsbaumallee, durch die sich die Geschenkekäufer drängen. Die Welt, die immer hasten und hetzen muss, auch um Weihnachten, — das Fest der Liebe, der Besinnung, das hetzt sie sich ab. Sie ist dem Heimgekehrten fremd und viel zu laut.
Möge sie stiller und nachdenklicher werde; dazu beitragen kann der Gedanke an das Schicksal der Heimkehrer, an das Schicksal auch des Generalvikars von Frauenburg.