Folge 06 vom 05.02.1955
Seite 3 Der Kampf um Ostpreußen. Die Front im Oktober 1944. Von Dr. Walther Grosse
Vor zehn Jahren brach über den deutschen Osten das schlimmste Unheil herein, das die deutsche Geschichte kennt. Die meisten unserer Landsleute sind Zeugen jenes furchtbaren Geschehens gewesen. Nur mit Grauen erinnern wir uns der Wochen der Flucht. Vielen gelang es nicht mehr, den Weg nach dem Westen zu erreichen. Entsetzliches mussten die Zurückgebliebenen erleben. Die Zahl der Toten allein unserer ostpreußischen Heimat geht in die vielen Hunderttausende.
Unser Mitarbeiter, General a. D. Dr. Walther Grosse, gibt in kurzen Zügen eine sachliche Darstellung der militärischen Vorgänge im ostpreußischen Raum. Sie beginnt mit dem Herbst 1944 und endet mit der Kapitulation im Mai 1945. Aus diesen Schilderungen wird ersichtlich, was der deutsche Soldat bei der Verteidigung unserer Heimat noch geleistet hat.
Kein frohes Erntefest war unserer Heimat Ostpreußen im Herbst 1944 beschieden. Nur allzu deutlich brandeten die Wogen des großen Zusammenbruchs der Mitte unserer Ostfront ins Land hinein. Aus der frühen so gesichert erscheinenden Provinz war mit einem Male ein kriegerisch-bewegtes Hinterland geworden. Das Leben verließ seine geordneten Bahnen: am 10. Juli 1944 hatte der Gauleiter Koch die gesamte Bevölkerung für kriegsdienstverpflichtet erklärt und Zehntausende zum Bau von Befestigungsanlagen eingesetzt. Und Hitlers Befehl zur Aufstellung eines „Volkssturms“ griff erneut rücksichtslos ein in alle wirtschaftliche Ordnung.
Gewiss, Ostpreußen war Anfang Oktober noch frei vom Feinde, aber allzu weit von der Grenze stand die seit dem Sommer um fast fünfhundert Kilometer zurückverlegte Front nicht mehr (siehe Skizze). Zwar verfügte die Heeresgruppe Mitte des Generalobersten Reinhardt noch über drei Armeen, aber sie hatte mit einer bereits überbeanspruchten Truppe in einer dünnen Front und ohne wesentliche Reserven an die sechshundert Kilometer zu schützen! Schon Monate vorher hatte man an der Front vom „Krieg des armen Mannes“ gesprochen, als es nict einmal mehr möglich war, aus der Heimat Draht für die Hindernisse zu erhalten. Von Monat zu Monat war die Lage der deutschen Soldaten dem Russen gegenüber immer ungünstiger geworden; nach sehr vorsichtiger Schätzung war das Verhältnis der Infanterie 1:11, der Panzer 1:7 und der Artillerie 1:20 – gar nicht zu reden von der russischen Überlegenheit in der Luft. Alle Bemühungen, von Hitler Verstärkungen für den Osten zu erhalten, waren bisher gescheitert und sollten auch in Zukunft so gut wie völlig scheitern. „Der Osten muss auskommen mit dem, was er hat, im Osten können wir noch Gelände verlieren, aber im Westen nicht“, war die stete Antwort. Trotz allem war die Stimmung des deutschen Frontsoldaten nicht verzweifelt, obwohl er in den letzten Monaten soviel Schweres durchgemacht hatte. Aber sie war ernst, denn nun galt es ja zum ersten Mal in diesem jahrelangen Kriege der Verteidigung der deutschen Heimat.
Der Verlust des Geländes, von dem Hitler gesprochen hatte, trat auf der ostpreußischen Front bereits in der zweiten Oktoberhälfte ein. Nicht weniger als fünf russische Armeen mit etwa vierzig Infanterie-Divisionen und zahlreichen Panzer- und motorisierten Verbänden traten am 16. Oktober an zum Angriff gegen den Nordflügel der 4. Armee des Generals Hoßbach. Sie gingen in der Hauptsache beiderseits der alten „historischen“ Angriffsstraße Willkowischki –Gumbinnen vor; ihr Ziel war offenbar ein frontaler Durchbruch Richtung Königsberg. Was besagten dieser Masse gegenüber schon die elf Infanterie-Divisionen, zweieinhalb Panzer-Divisionen und zwei Kavallerie-Brigaden Hoßbachs! Aber Truppe und Führung zeigten sich auch jetzt noch der Lage gewachsen: die 140 Kilometer lange Front wurde zwar stellenweise durchstoßen, aber sie schloss sich – wenn auch zusammengedrängt – wieder zusammen. Fast drei Wochen dauerte der Großkampf. Russische Panzerkeile stießen am 21. Oktober bis nach Nemmersdorf an der Angerapp durch (siehe Skizze). Goldap ging verloren. Aber Gegenangriffe drängten den Russen südlich Gumbinnen zurück, und nach zweitägigem Häuserkampf konnte auch Goldap Anfang November zurück erobert werden.
In der ersten Novemberwoche war der Nordflügel der 4. Armee stellenweise um vierzig Kilometer zurückgedrückt; der Russe stand auf ostpreußischem Boden, aber ein entscheidender Durchbruch war ihm nicht gelungen. Noch einmal hatte er die Pranke des bereits schwer verwundeten deutschen Löwen zu spüren bekommen, an die tausend Panzer und gegen dreihundert Geschütze hatte er bei seinem Versuch eingebüßt. Er wiederholte seinen Angriff nicht, auch er war erschöpft. Die Operationen gegen Ostpreußen ruhten länger als zwei Monate.
Auch im Norden der Provinz war ein Teil des Memellandes verlorengegangen. Ein aus Kurland kommender Stoß hatte um den 10. Oktober herum die 3. Panzer-Armee des Generaloberst Rauss bis hinter dem Memelstrom zurückgedrängt. Die Stadt Memel jedoch hielt bis zum Februar allen Angriffen tapfer stand.
Noch einmal war es gelungen, wenn auch unter schweren Opfern, einen Großangriff auf Ostpreußen abzuwehren. Aber wie sollte es werden, wenn sich zwischen Karpathen und Ostsee die zahlreichen russischen Heere zugleich in Bewegung setzten? Die geradezu unmenschlichen Bilder im zurückeroberten Nemmersdorf und in Goldap hatten gezeigt, was die Bevölkerung von den Russen zu erwarten hatte.
Im großen betrachtet war ja der ganze Krieg längst reif zur Beendigung, daran konnte auch alles Geschwätz von Wunderwaffen nichts mehr ändern. Aber selbst wenn sich Hitler in seiner Verblendung auf Widerstand verkrampfte, so war Ostpreußen auf die Dauer doch nicht mehr zu halten, und es kam nur noch darauf an, die sich bereits dunkel abzeichnende Katastrophe nach Möglichkeit vorausschauend abzuschwächen und ihr den Schrecken des plötzlichen Hereinbrechens zu nehmen. Eine Möglichkeit zur Verstärkung der dünnen Front bot sich geradezu an: man konnte die noch immer in mancherlei Bögen aus schwingende Front verkürzen und sie bei der 4. Armee zurückverlegen hinter die Masurischen Seen mit der Festung Lötzen als Kernpunkt und dann anschließend an die Befestigung des Masurischen Kanals und weiterhin an die Deime. Im Rücken hatte man dann als rückwärtige Stellung die rund tausend kleinen und großen Kampfstände des sogenannten „Heilsberger Dreiecks“. Sie hatten zwar vieles von ihren Einrichtungen für andere Befestigungen abgeben müssen, besaßen aber dennoch einen gewissen Wert. Inter einer so verstärkten Front hätte sich die Räumung Ostpreußens im November und Dezember einigermaßen planmäßig vollziehen können; unendliches menschliches Leid und der Verlust von Millionenwerten wären dadurch erspart worden.
Aber leider hatte die NSDAP bei solchen Maßnahmen mitzureden. Jeden Wunsch nach Räumung brandmarkte sie von vornherein als landesverräterischen Defaitismus. (eine Skizze; Deutsche Gegenangriffe Ende Oktober 1944). Sie übernahm damit die Verantwortung vor Gott, vor ihren Landsleuten und vor der Geschichte. Das unheilvolle Nebeneinander der Befehlsgewalt zwischen den hohen militärischen Dienststellen und dem „Reichsverteidigungs-Kommissar“ rächte sich; es rieb gerade in Ostpreußen viel kostbare Nervenkraft auf.
Noch Kräfte nach dem Westen abgezogen
An Warnungen und Vorstellungen bei Hitler von seiten militärischer Führungsstellen hat es in diesen Wochen wahrhaftig nicht gefehlt. Der Chef des Generalstabes, Generaloberst Guderian, durch seinen Geburtsort Kulm auch persönlich eng mit dem Osten verbunden, hatte um die Jahreswende mit Hitler in seinem hessischen Waldlager außerordentlich erregte Auseinandersetzungen, wobei er ihm mit aller Offenheit voraussagte, dass bei dem krassen Missverhältnis der Kräfte bei einem russischen Großangriff die Ostfront zusammenbrechen müsse „wie ein Kartenhaus“. (Große Skizze: Die Lage Anfang Oktober 1944). Aber der „größte Feldherr aller Zeiten“ wollte nicht an die Möglichkeit einer russischen Offensive glauben, bei der es doch nur um Sein oder Nicht-Sein gehen müsste.
„Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan, wer at diesen Blödsinn ausgegraben?“ war seine Antwort. Er wies auch voller Zorn den Gedanken weit von sich, von den deutschen Truppen in aller Welt, in Norwegen, auf dem Balkan, auf Kreta und anderen Inseln im Mittelmeer irgendwelche Verstärkungen nach Ostpreußen heranzuholen, ganz zu schweigen von Kurland, wo nicht weniger als 26 besonders bewährte Divisionen fast nur noch aus Prestigegründen schwere Kämpfe durchfochten.
Statt die Ostfront zu verstärken, wurden im Gegenteil noch Kräfte abgezogen zu der von vornherein ziemlich aussichtslosen Ardennen-Offensive im Dezember, die sich dann auch sehr bald festlief, und vor allem zur Befreiung der Stadt Budapest. Das militärische Halbwissen, das sich Hitler angeeignet hatte und seine immer mehr zu Tage tretende krankhafte Überheblichkeit verboten ihm, einer Verkürzung und Begradigung der Fronten im Osten zuzustimmen.
So blieb auch die kurze Frist unausgenützt, und das Schicksal musste seinen Lauf nehmen.
Schluss dieser Darstellung in der nächsten Folge.
Seite 3 Vor zehn Jahren
Nachdem bereits um die Jahreswende 1944/1945 in den südöstlichen Siedlungsgebieten, insbesondere im Banat und in der Batschka, Massendeportationen in das Innere Russlands durchgeführt worden waren, brachen auch über die in ihrer Heimat gebliebenen Deutschen in den deutschen Ostgebieten die Verschleppungen herein. Sie setzten Ende Januar 1945 ein, wurden im Monat Februar systematisch fortgeführt und erreichten im März ihren Höhepunkt, um erst Ende April ein vorläufiges Ende zu finden.
Die Verschleppungslager, welche von den einzelnen sowjetischen Heeresgruppen eingerichtet wurden, waren Stätten furchtbaren Grauens. Familien wurden auseinandergerissen und getrennt abtransportiert. Ohne Verpflegung, auf tagelangen Fußmärschen bei bitterer Kälte wurden die Kolonnen der Zwangsarbeiter zusammengetrieben. Unter schweren Misshandlungen wurden Pseudo-Verhöre durchgeführt. Infolge Hunger und Krankheiten starben in den Lagern Tausende. In regelmäßigen Abständen fuhren die Verschleppungszüge ab, die durchschnittlich je zweitausend Menschen, zusammengepfercht in wenigen Waggons, auf zwei bis dreiwöchigen Fahrten bis an das Eismeer, in den Kaukasus, nach Turkmenien, vorwiegend in den Ural und das Donez- und Dongebiet fortführten.
Die Hauptsammellager waren: Insterburg, Zichenau, Soldau, Graudenz, Schwiebus, Posen, Sikawa bei Lodz, Beuthen, Peiskretscham, Krakau, Sanok und Sambor bei Przemysl.
Es wurden verschleppt insgesamt etwa 350 000 Ostdeutsche, von denen 100 000 bis 125 000 bereits in den Lagern und dann auf den Transporten verstarben.
Anfang des Monats Februar gehen die Kreise Arnswalde, Pyritz und Greifenhagen verloren, deren Bevölkerung sich nur zur Hälfte retten kann.
1.2.: Das eingeschlossene Thorn gefallen
2.2.: Konferenz in Jalta. Nach langer Debatte über die Grenzen des zukünftigen polnischen Staates und auch über einen „Transfer“ deutscher Bevölkerungsteile wird von den „drei Regierungschefs“ der USA, Großbritanniens und der UdSSR im Kommunique erklärt, dass „die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens danach bis zur Friedenskonferenz zurückzustellen ist“.
5.2.: Der Ministerpräsident der „Provisorischen Regierung der Polnischen Republik“, Boleslaw Bierut, welche sich am 31. Dezember 1944 aus dem kommunistischen „Polnischen Komitee der Nationalen Befreiung“ in Lublin gebildet hatte, gibt auf einer Pressekonferenz bekannt, dass Polen die Verwaltung in den deutschen Ostgebieten übernehmen werde.
9.2.: Elbing verloren, Tausende fallen in sowjetische Hand.
10.2.: Liegnitz gefallen, in der Stadt befanden sich noch rund 20 000 Menschen. – Das Flüchtlingsschiff „Steuben“ wird vor Stolp torpediert, es sinkt mit rund 3500 Menschen.
12.2.: Glogau eingeschlossen. Bunzlau verloren.
13.2.: Striegau mit 15 000 Menschen verloren. Budapest kapituliert.
13./14.2: Bombenangriffe auf Dresden, das mit Flüchtlingen überfüllt ist; etwa 1 130 000 Menschen, Einwohnerzahl 670 000. Die Zahl der Opfer wird auf 350 000 bis 400 000 geschätzt. Noch zwei Monate danach arbeiten Beerdigungskommandos in der zerstörten Stadt, allein ein Massengrab auf dem Heidefriedhof enthält die Asche von zehntausend Menschen.
15.2.: Ring um Breslau geschlossen, in der Stadt befinden sich etwa 200 000 Zivilisten.