Mortensen: Die litauische Wanderung Teil 4

Nicht zutreffend erscheint auch die bis vor kurzem wohl all�gemein anerkannte,
noch weitergehende Ansicht, da� der Orden die Wildnis im �stlichen Ostpreu�en
geradezu "gewollt", sie also aus strategischen Gr�nden planm��ig geschaffen
halte. Abgesehen von dem bereits Vorgebrachten, seheint mir der st�rkste
Gegen�beweis gegen die Annahme einer strategischen Absicht die Stra�tegie selbst
zu sein. Der Deutsche Orden hatte die ganze Zeit bis zur Schlacht bei
Tannenberg, also bis 1410, offensive Absichten gegen Litauen, zum mindesten
gegen Zemaiten, w�hrend die Li�tauer sich, obwohl sie gelegentlich zu
Gegenst��en ansetzten, in der Defensive befanden. Wer mu�te nun aber den
gr��eren Vor�teil von einer so breiten (durchschnittlich 150 km!) v�llig
siedelungsleeren Wildnis haben! Tats�chlich geht aus allen diesbez�g�lichen
Nachrichten hervor, wie sehr der Orden in jeder Weise bei allen seinen
Unternehmungen gegen Litauen mit den Schwierig�keiten zu k�mpfen hatte, die
durch den Wildnischarakter des Grenzgebietes bedingt waren. Es w�re bei der
weitschauenden Politik des Ordens ein �bergro�er Fehler gewesen, wenn er eine
Ma�nahme ergriffen h�tte, die ihm zwar einen gewissen, dem Gegner jedoch einen
viel gr��eren Vorteil brachte. Die An�sicht, da� der Orden die Wildnis gewollt
habe, ist kaum mehr haltbar. Es handelt, sich bei der Wildniswerdung auch im
ost�preu�ischen Gebiete um einen gro�artigen Vorgang, dem gegen��ber der Orden
machtlos war, den er weder bewirken noch ver�hindern konnte.

Nach 1400 setzt nun ein Vorgang ein, der, f�r sich ge�nommen, ebenso eigenartig
ist wie der Vorgang der Wildniswerdung au�erhalb der litauischen Volksgrenze.
Der litauische Raum, wie er 1400 im Westen und Norden abgegrenzt war, vermag die
in ihm wohnenden Litauer nicht mehr zu fassen, und von ungef�hr 1450 an beginnt
eine erstaunliche litauische Expansion nach Westen und Norden.

Am besten bekannt sind die Verh�ltnisse auch hierbei wieder im Westen, dessen
Besiedlung auf ostpreu�ischem Boden von Gertrud Mortensen bis zum Jahre 1618 in
einer seit 1920 dem Er�gebnis nach fertigen, allerdings noch nicht
ver�ffentlichten Unter�suchung klar gelegt worden ist. Von den preu�ischen
Herz�gen geduldet dringen dort die Litauer schier unaufhaltsam vor und besiedeln
in allm�hlichem Vorschreiten das gesamte Wildnisgebiet. Mehrere
Haupteinwanderungswege kann man aus der Verteilung der litauischen Siedelungen,
wie sie, f�r 1540 mit v�lliger Genauig�keit erfa�bar ist, erkennen. Einmal eine
teils litauische, teils ku�rische Besiedelung ganz im Norden des Memellandes,
die offenbar wesentlich von Norden und Nordosten gekommen ist l�ngs der gro�en,
von Norden kommenden Fl�sse, insbesondere l�ngs der Dange und der Minge und auch
l�ngs der K�ste. Eine weitere Gruppe siedelte sich l�ngs des Wilkischker
H�henzuges und der Jura an, die als Leitflu� f�r die Einwanderung gedient haben
d�rfte. Die Memel zog nat�rlich ebenfalls die Einwanderung an sich, aber
bemerkenswerterweise nicht etwa in einem ihrer Gr��e entsprechenden besonderen
Ma�e. Sie war f�r den b�uerlichen Siedler nichts anderes als jeder andere Flu�,
z. B. die Szeszuppe, l�ngs dessen er vorging. Ein weiterer, nicht ganz so
konzentrierter Siedelungskern befindet sieh westlich und s�d�stlich des Wystiter
Sees. Auch dort sind die Siedler offensichtlich den Fl�ssen ge�folgt. Da� die
Besiedlung des Gebietes zwischen der litaui�schen 1400-Grenze und der
ostpreu�ischen Grenze der des �stlichen Ostpreu�en vorauf oder aber parallel
ging, ist anzu�nehmen.

Im ganzen ist die Besiedelung der Wildnis auf ostpreu�ischem Boden 1540 bei
weitem noch nicht abgeschlossen. Die Ostgrenze des preu�ischen Siedelungsrauines
ist noch nicht erreicht: nur bei Insterburg ber�hrt sich die vorderste Spitze
der l�ngs der Inster gekommenen litauischen Siedelungslinie mit der preu�ischen
Siede�lungslinie l�ngs des oberen Pregels. Unter den noch vorhandenen
Wildnisfl�chen befindet sich auch das Gebiet �stlich der Deime, dessen Fl�sse
quer zur Hauptrichtung der litauischen Einwanderung verlaufen. Es ist
interessant, da� es gerade dieses Gebiet ist. das auch im weiteren Verlauf der
Wildnisbesiedlung als allerletztes von den Litauern besetzt wird, und zwar auch
in dem Teile, wo die Bodenfeuchtigkeit der Besiedelung keineswegs hinderlich
war.

Ganz allm�hlich schreitet die Erweiterung des Siedelungslandes und die
Verdichtung der Bev�lkerung fort. Wenn wir auch f�r die Zeit nach 1618 uns nicht
mehr auf eine Einzeluntersuchung st�tzen k�nnen, so k�nnen wir doch den
Zeitpunkt des Endes der litauischen Einwanderung nach Ostpreu�en mit ziemlicher
Ge�nauigkeit angeben. Es ist der Beginn des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit
findet n�mlich ein Vorgang statt, den wir bisher eigent�lich nur als einen
f�rstliehen Willensakt kennen, der aber doch offenbar in den gro�en Zusammenhang
hineingeh�rt: die Chatoul-siedlung. Die Durchmusterung der Chatoulsiedlungen
nach dem Goldbeckschen Ortsverzeichnis ergibt, da� es sich auf unserem Gebiet
fast ausschlie�lich um litauische Siedlungen handelt, und zwar durchg�ngig
Siedlungen, die die noch vorhandenen gro�en W�lder vom Rande her aufzehren.
Diese Chatoulsiedlung. die dem F�rsten seine Privatkasse f�llen sollte, war nur
m�glich, weil ge�n�gend litauische Siedler zur Verf�gung standen. Sie ist somit
der letzte A usk1ang d e r gro�en 1 i ta u is chen Expansion nach Ostpreu�en
hinein.

Der �u�ere Anla� f�r das Zerbrechen der litauischen Lebens�kraft auf
ostpreu�isehem Gebiet, und vielleicht auch die tats�ch�liche Ursache, war die
gro�e Pest zu Beginn des 18. .lahrhunderts. Sie w�tete in den litauisch
besiedelten Teilen
Ostpreu�ens beson�ders stark, und mit ihr war dort eine erhebliche Entv�lkerung
verbunden. Die Litauer haben sich von diesem Schlage nie wieder erholt.

N�rdlich und n o r d �stlich der ostpreu�ischen Gr enze sind wir �ber die
litauische Expansion leider vorl�ufig nicht so gut orientiert wie f�r den
ostpreu�ischen Anteil des Wildnisge�bietes. Immerhin ist einiges deutlich
erkennbar. Das westliche T i ef z e m ait en, das ungef�hr der alten Landschaft
Ceclis ent�spricht, ist heute litauisch besiedelt, und wir k�nnen, insbesondere
aus den Kirchengr�ndungen, vermuten, da� die Besiedlung unge�f�hr zur selben
Zeit vor sich gegangen ist wie die Besiedlung des �stlichen Ostpreu�en. Im
nordwestlichen Hochzemaiten hat die Besiedlung sogar wahrscheinlich sehr bald
nach 1400 be�gonnen .

Im K�nigsborgor Staatsarchiv gibt es eine Abteilung "D (Invasion der Litauer im
Amte Grobin 1511 f.). deren Inhalt mir allerdings nicht bekannt ist. Schon der
Titel sagt jedoch genug. Grobin liegt n�mlich unweit �stlich Libau, und wenn
auch nur ein abgelegener Teil des Amtes von der litauischen Invasion betroffen
sein mag. so erkennen wir doch, da� die litauische Expansion hier im Nordwesten
ebenfalls in die Zeit um 1500 zu setzen ist. Anch die Gr�ndungsurkunde der Stadt
Jobannisburg-Schoden vom Jahre 1572 l��t eiue litauische Besiedlung in jener
Zeit erkennen. Wie weit Kuren an dieser Neubesiedlung beteiligt gewesen sind,
wird sp�tere Forschung noch kl�ren m�ssen.

Im mittleren Norden hat ein litauisches Vordringen nach Norden ebenfalls
stattgefunden, denn heute befindet sich die li�tauische Volksgrenze, die sich
dort ziemlich genau mit der heutigen politischen Grenze deckt, wesentlich weiter
n�rdlich als 1400 , und zwar naturgem�� merklich au�erhalb des
Memeleinzugsgebietes. Die heutige Grenze ist in keiner Weise nat�rlich bedingt,
was auf den ersten Anblick befremdlich ist. Sie ist gegen�ber der nat�r�lichen
Grenze. der Wasserscheide n�mlich, durch die litauische Ex�pansion nach Norden
verschoben und hat dadurch einen mehr zu�f�lligen Charakter erhalten. Auch hier
im mittleren Norden k�nnen wir �ber den Zeitpunkt des litauischen V ormarsches
Angaben machen. .Bielenstein erw�hnt n�mlich eine die Mitte des 17.
.Jahrhunderts betreffende zeitgen�ssische Darstellung, nach der im
Frauenburgisohen und Eserschen viel Litauer neben den Letten wohnen. Bielenstein
schlie�t daraus und aus anderen Tatsachen (a. a. O. S. 386), da� die Litauer im
13. Jahrhundert weiter nach Norden gereicht haben, weil er sich die Litauer nur
im R�ckgange vorstellen kann. Wir d�rfen umgekehrt schlie�en, da� dies so
un�gef�hr die n�rdlichste von den Litauern erreichte Gegend ist und da� die
Wanderung der Litauer ungef�hr in jener Zeit ihren H�he�punkt erreicht hatte,
also zur selben Zeit wie in Ostpreu�en. .Die Tatsache der Einwanderung der
Litauer war �brigens, wie man aus einem von Bielenstein mitgeteilten (a. a.
0.), allerdings nicht in dieser Richtung ausgewerteten Bericht eines dortigen
Litauers entnehmen kann, diesem Litauer durch m�ndliche �berlieferung noch
bekannt. Heute sind diese Litauer lettisiert; sie haben also ein �hnliches
Schicksal gehabt wie die heute germanisierten Litauer in Ostpreu�en.

Wenn die litauische Expansion nach NNW bereits im 17. .Jahr�hundert bis weit in
das heutige Kurland gef�hrt hat, so d�rfen wir auch f�r die �stlicher gelegenen
Gebiete, also den S�dteil des Mitauer Zungenbeckens. ungef�hr dieselbe Zeit f�r
das litauische Vordringen annehmen.

Im Nordosten wissen wir �ber den Zeitpunkt des litauischen Vordringens bisher
nichts. Auf jeden Fall sind die Litauer auch im Nordosten nach 1400 in die sie,
umgebende Wildnis eingedrungen, haben hier, wo sie urspr�nglich die
Memel-Wasserscheide noch nicht erreicht hatten, diese Wasserscheide sogar
�berschritten und sitzen heute verstreut auch n�rdlich der D�na.

Wenn wir das erhaltene Bild in seiner Gesamtheit �berschauen, so erkennen wir,
da� es �beraus geschlossen ist. Um 500 die Wohnsitze eines Teiles der Balten,
insbesondere der Litauer. noch weit von der K�ste weg, ja bis jenseits der
konti�nentalen Wasserscheide, ein anderer Teil bis zur Ostseek�ste
vor�gedrungen. Einige Hundert .lahre sp�ter die Litauer bereits mit ihrer ganzen
Masse im
Einzugsgebiet der mittleren MemeL Die meisten �brigen Balten au�erhalb des
mittleren Memelgebietes sind im Abziehen begriffen oder sterben aus. Ihr
ehemaliges Gebiet wird Wildnis. Nach einer merklichen Pause setzt die vorher zur
Ruhe gekommene litauische Wanderung wieder ein, und die Litauer be�setzen nun
die verlassenen Gebiete der nichtlitauischen V�lker. Sie sind es, die die gro�e
baltische V�lkerwanderung bis in den Beginn des 18. .Jahrhunderts fortgesetzt
haben.

Die Gr�nde f�r das Aussterben der nichtlitauischen V�lker sind uns ebenso wie
�berhaupt die Ursachen der baltischen Wan�derung nicht klar. Buga glaubt, da�
die Balten von innen durch die Slaven gedr�ngt seien. Das ist an sich nicht zu
widerlegen. Immerhin mu� man beachten, da� innerhalb der baltischen V�lker von
einem solchen Dr�ngen der zentraleren auf die randlicheren V�lker nicht
viel zu bemerken ist. Wir finden immer nur ein Nachr�cken von Litauern in die
von den �brigen V�lkern seit l�ngerem verlassenen R�ume, nicht jedoch eine
�berlageriing der alten V�lker durch die Litauer .

Wir haben somit dieselben Probleme, wie sie uns die germa�nische V�lkerwanderung
seit langem bietet. Auch da finden wir V�lker ohne ersichtlichen Grund in
Bewegung: auch da hat man bei intensiverer Untersuchung h�ufig festgestellt, da�
von einem Dr�ngen, insbesondere seitens der Slaven, l�ngst nicht �berall die
Rede ist. Ob es im baltischen Gebiete Klima�nderungen sind, die den V�lkern ihre
urspr�nglichen Wohnsitze so verleideten, da� sie aussterben oder aber immer
wieder weiter wandern mu�ten, ob es eine gewisse Selbstzerfleischung durch
dauernde K�mpfe gewesen ist oder irgend etwas anderes, wir wissen es nicht. Wir
k�nnen uns nur damit tr�sten, da� wir die letzten Ursachen der germa�nischen
V�lkerwanderung, obwohl diese viel besser durchforscht ist und nicht erst seit
7 Jahren, ebenso wenig kennen.