Meine Erlebnisse im russischen Heere

Am 25. August, nachmittags ca. 3 Uhr kam der Hirt vom Gastwirt und
Grundbesitzer B. zu mir gelaufen und meldete, daß die Russen die gestern
vernagelten Türen wieder erbrochen hätten und den Laden plünderten, und
bat mich dorthin zu kommen, um womöglich die Plünderung zu verhüten. Als
ich dort erschien, bezahlten die Russen zum Teil die Waren, die sie
nahmen. Besonders hatten sie es auf den Spiritus, den "Wodki", abgesehen,
womit sie fürsorglich auch ihre Feldflaschen füllten.

Als die Kolonne weggezogen war, hielt ich mich mit dem Hirten von B. und
dem Altsitzer Sk. noch ein Weilchen in der Krugstube auf. Da erschien
ein betrunkener russischer Infanterist, verlangte Wutki, welchen er auch
erhielt. Er klagte über große Müdigkeit, zeigte seine wundgelaufenen
Füße und sagte, er werde nicht mehr zum Heere gehen. Es war
höchstwahrscheinlich ein Verlaufener oder ein Deserteur. Er gab, ohne
daß wir dieses verlangten, sein Gewehr, sein Seitengewehr und seine
Patronen ab. Diese Sachen warfen wir durchs Fenster in den Garten.

Kurz darauf erschien ein höherer russischer Offizier, ein älterer Mann;
er hatte silberne Achselstücke mit silbernen russischen Buchstaben,
keine Nummer. Als derselbe den auf dem Sofa schlafenden betrunkenen
Soldaten erblickte, hieb er mit der Reitpeitsche auf ihn ein und fragte
ihn nach seinem Gewehr. Als derselbe in seiner Bestürzung zur Antwort
gab, er wisse es nicht, fragte der Offizier mich danach. Als ich ihm
ebenfalls antwortete, ich wisse das nicht, setzte er mir seinen Revolver
auf die Brust, worauf ich ihm zeigte, wo der Russe, wie ich sagte, sein
Gewehr hingeworfen habe. Der Hirt M. hatte vorher von dem Offizier, als
er ihm in seiner Verblüffung nicht geantwortet hatte, eine schallende
Ohrfeige erhalten. Der Altsitzer Sk. war vorher durch die Hintertür
entschlüpft.

Ich mußte nun - es war eine Proviantkolonne mit Brot - auf den
Bagagewagen steigen und wurde mitgenommen. Die Fahrt ging über Gut Biala,
Widminnen und Sucholasken nach Lötzen zu. Im Walde hinter Sucholasken
wurde übernachtet. Ich mußte in meiner leichten Sommerkleidung auf der
Erde liegen, von zwei Soldaten bewacht. Als ich einen Unteroffizier, der
Polnisch sprach, fragte, was mit mir geschehen würde, gab er seelenruhig
zur Antwort: "Der Herr wird totgeschossen oder gehängt." Das waren nette
Aussichten! In der Nacht fand ich vor Aufregung keinen Schlaf, zitterte
vor Kälte. An Flucht war nicht zu denken, da der Wald licht, ohne
Unterholz war, und der Vollmond am wolkenlosen Himmel stand. Auch
schienen meine Wächter nicht zu schlafen; denn sobald ich eine kleine
Bewegung machte, rührten sie sich auch.

Morgens um ca. 4 Uhr wurde aufgebrochen. Hinter dem Walde kamen wir in
eine sehr sandige Gegend. Die Fuhrwerke, wie ich erforschte, polnischen
Bauern aus der Gegend von Grajewo gehörig, die selbst kutschierten,
waren schwer beladen und kamen nur sehr mühsam vorwärts, da die kleinen
polnischen Pferdchen sehr matt und überanstrengt waren. Da bat ich den
neben mir sitzenden schlaftrunkenen Soldaten, absteigen und nebenher zu
Fuß gehen zu dürfen, um den Pferden die Last zu erleichtern, was mir
wider Erwarten auch gestattet wurde. Der Morgen war sehr nebelig und die
sandige Landstraße sehr breit. Ich ging auf dem Fußsteig neben dem
dritten Wagen, auf dem ich gesessen hatte. Allmählich - der Fußsteig war
4-5 Meter vom Fahrweg entfernt - kam ein Wagen nach dem andern an mir
vorbei, weil ich meine Schritte verlangsamte, so daß ich bald in der
Höhe des letzten Wagens war. Die Soldaten hatten die Mantelkragen
hochgeschlagen und träumten vor sich hin, auf mich nicht achtend.

Jetzt kam ein abschüssiger, gepflasterter Weg, in ein Dorf führend - es
kann Siewken gewesen sein - da blieb ich stehen und hörte im Nebel die
Wagen den Weg hinunterrollen. Da dachte ich: "Jetzt ist die Gelegenheit
zur Flucht günstig!" Ich versteckte mich in der ersten von den Bewohnern
verlassenen Chaluppe. Nach etwa 5 Minuten höhrte ich einen Reiter in der
Richtung zurückgaloppieren, aus der wir gekommen waren. Jedenfalls
suchte er mich, der ihnen entflohen war. Als er vorbeigeritten war, lief
ich auf Strümpfen die Chaussee entlang nach Norden, während wir auf dem
Landwege von Osten gekommen waren. Nach etwa 10 Minuten schnellen
Laufens stieß ich auf ein russisches Lager zu beiden Seiten der Chaussee,
in dem - es war etwa 6 Uhr morgens - reges Leben herrschte. Ich grüßte
begegnende Offiziere auf polnisch, man ließ mich ungehindert gehen, wohl
meinend, ich wäre Landwirt und ginge meiner Arbeit nach.