Literatur: Klaus-Jürgen Liedtke, Die versunkene Welt - Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute

Klaus-J�rgen Liedtke: Die versunkene Welt
Ein ostpreu�isches Dorf in Erz�hlungen der Leute
*Eichborn Verlag, 424 Seiten, 32 Euro*
****ISBN 978-3-8218-6215-6

Liebe Leser,
irgendwo und irgendwann hatte ich dieses Buch des "nachgeborenen" Autors �ber das kleine Dorf Neu-Kermuschienen im s�dlichen Teil des Kreises Darkehmen / Angerapp wohl schon erw�hnt gefunden. Nachdem ich es mir jetzt zugelegt habe, m�chte ich mit der nachfolgenden Besprechung aus dem Deutschlandfunk empfehlend darauf hinweisen.
Einige weitere Rezensionen sind auszugsweise unter Eichborn Verlag | Belletristik und Sachbücher nachzulesen.
Die betreffende Vorschau des Verlags [mit Fotos] ist unter http://www.die-andere-bibliothek.de/fileadmin/pdf/vorschau/ab_vorschau_2_08.pdf zu finden.
Freundliche Gr��e
Joachim Rebuschat
http://famint.de/

*"Von der Kultur ist nichts geblieben" <"Von der Kultur ist nichts geblieben"*
Klaus-J�rgen Liedtke: Die versunkene Welt, Die Andere Bibliothek Eichborn, Frankfurt
/Von Gernot Kr�mer/

*Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Bewohner des ostpreu�ischen Dorfes Kermuschienen fliehen. Wo einst ihre H�user und H�fe standen, sind heute nur noch Wiesen und W�lder zu sehen. Durch Gespr�che mit den ehemaligen Bewohnern l�sst Autor Klaus-J�rgen Liedtke "Die versunkene Welt" wieder auferstehen.
*Die Gegend liegt im �u�ersten Nordosten Polens, nicht weit von der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad und zu Litauen. Sucht man in Google Maps danach, so bekommt man nur aus gro�er H�he einen vagen Eindruck. Beim Heranzoomen wird alles unscharf, die Landschaft verschwimmt zu Farbklecksen, die Aufl�sung der Bilder entspricht der von afrikanischen W�stenregionen. "Das passt ja ausgezeichnet", sagt Klaus-J�rgen Liedtke, als er es erf�hrt, "die Gegend hie� fr�her schon 'die gro�e Wildnis'".
Es ist nicht schwer, sich das vorzustellen, denn das Kermuschienen seines Buchs macht den Eindruck gr��ter Abgeschiedenheit, und die Bilder im Anhang best�tigen es: Ein Hundert-Seelen-Dorf auf einer Anh�he in welligem Gel�nde, rundherum viel Wald, Felder und Seen, da und dort sieht man noch ein einzelnes Haus oder Geh�ft. Von hier, aus dieser b�uerlichen Welt, stammen die meisten der Menschen, die Liedtke befragt hat - anfangs, weil er mehr wissen wollte �ber seinen Gro�vater, einen Bauern, Heimatdichter und Sammler von Flurnamen, sp�ter, weil ihn die vielf�ltigen, oft widerspr�chlichen Erinnerungen an das Dorf reizten:
"Irgendwann entstand in mir der Wunsch, das Leben dieser Leute zu rekonstruieren, und ich habe sie aufgesucht �ber einen Zeitraum von zehn Jahren. Ich hab dann an die vierzig solcher Zeitzeugen befragt, mit Tonband - danach habe ich es abgetippt. Das war alles sehr m�hselig. Ich habe es den Leuten wieder zugeschickt, teilweise erg�nzt. Vor allem war mir dabei wichtig, die Sprache der Erz�hler, auch mit den vielen Abschweifungen, zu bewahren. Ich wollte den Rhythmus, den Tonfall des m�ndlichen Erz�hlens erhalten, auch in Dialekteinsprengseln, die h�ufiger geworden sind, als ich es zun�chst vorhatte. Und so hab ich dann aus Hunderten solcher kleiner Partikel eine gr��ere Erz�hlung zusammengest�ckt. Das war dann noch mal ein Zeitraum von etwa zehn Jahren."
Zum Sound dieser Welt geh�ren die Namen: Orts- und Flurnamen von eigenartigem Zauber, wie Eszerienen, Ballup�nen oder Jaggeln. Liedtke k�mmert sich nicht sonderlich um den Diskurs �ber Krieg und Vertreibung; beide nehmen �berraschend wenig Raum ein neben Alltagsschilderungen und privaten Anekdoten. An das Verst�rende wird oft nur nebenbei erinnert: Was geschah mit den Juden, mit Behinderten und Geisteskranken, die einfach verschwanden? Was war das f�r ein geheimes Bauprojekt, von dem man erst nach dem Krieg wieder h�rte? Es war die Wolfsschanze, das F�hrerhauptquartier im Osten.
Als der Krieg mit Russland anfing, war die Best�rzung gro�, es war nichts von Hurrapatriotismus, im Gegenteil, es war ein stiller, aber starker Groll auf Hitler. Beide S�hne vom Franz Steinke lagen in der N�he der Grenze im Osten. Es war der Morgen des 22. Juni, kurz nach drei Uhr, als man deutlich den Kanonendonner h�rte. In der hellen Sommernacht war der Himmel im Osten nicht nur von der aufgehenden Sonne ger�tet, kaum wahrnehmbar sah man Blitze am Horizont. 'Nu es et sowiet', sagte die Emma beim Melken erbittert und voller Sorge. Der Franz, heftig wie er war, grummelte und schimpfte leise herum auf dem Hof, auf dem Weg zur Milchbank fing er richtig zu wettern an: 'Nu es de Hitler ganz verreckt geworde. Jejen dem grote Ru�land jeiht er jejen an.' Und weiter: 'Mott he nu ook jejen dat Grote Ru�land goahne? Dat grote Ru�land kann he doch nie besieje. He kann nich genoch krieje. Nu es he all en Poale on Frankreich, en Norweje on Griecheland. De halwe Welt hett he all besett. Nu noch Ru�land. He fehrt ons ent Verdoarwe.
Klaus-J�rgen Liedtke ist eher ein Sammler als ein Erz�hler oder Historiker. Er bem�ht sich nicht so sehr um Abstand, Deutung oder Dramaturgie, als darum, dass nichts vergessen wird von dieser kleinen, unwiederbringlich verlorenen Kermuschienener Welt.
Die Schwierigkeit dabei liegt auf der Hand. Sie besteht darin, eine Struktur zu finden, die das Ganze tr�gt, einen Erz�hlfaden. Liedtke hat sich f�r eine gemischte L�sung entschieden: Er folgt zwar einer groben Chronologie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Flucht im Zweiten Weltkrieg, legt aber kapitelweise Themen fest. Der F�lle und Widerspenstigkeit des Materials wird er nur bedingt Herr, doch das liegt weniger an diesem Modell als an der allzu gro�en, unterschiedslosen Liebe selbst zu belanglosen Einzelheiten, wie sie im Strom der Erinnerung unvermeidlich auftauchen. W�ren die Sprecher als Individuen erkennbar, so w�ren die Kontraste vermutlich sch�rfer und der Eindruck von Redundanz geringer, aber:
"Bei mir gibt es eigentlich gar keine Einzelstimmen. Es ist ein Gesamtchor aller Bewohner dieser Gegend, so dass man gar nicht heraush�ren kann, wer gerade erz�hlt. Wenn ich es heute wieder lese, frage ich mich selber: Wer erz�hlt das eigentlich? Es ist zwar alles irgendwie authentisch, aber durch diese Gestaltung als Gro�montage ist es auch wieder aufgehoben in einem h�heren Sinne."
Liedtke bekennt sich zu einer Art Kunstsprache, die er aus dem Material geschaffen habe, haupts�chlich durch stilistische Anhebung und Angleichung. Er spricht von Poesie und poetischer Wahrheit. Durch diese Intentionen hebt sich "Die versunkene Welt" deutlich ab von einem Klassiker jenes Genres, dem man sie wohl zuschlagen muss, der Dokumentarliteratur.
Auch Erika Runge hat in ihren "Bottroper Protokollen" Ende der sechziger Jahre Gespr�che mit Ortsans�ssigen auf Tonband dokumentiert, nachbearbeitet und in eine Art literarische Originalton-Montage �berf�hrt. Aber sie hat das Krude, Ungeschliffene der Ausdrucksweise nicht gegl�ttet und die einzelnen Protokolle nicht eingeschmolzen in einen anonymen "Gesamtchor". Bei Liedtke l�sst sich nur eine Stimme individuell zuordnen, die eines polnischen Zwangsarbeiters. Das Politische, das mit Dokumentarliteratur so oft assoziiert ist - man denke aus j�ngerer Zeit etwa an Feridun Zaimoglus "Kanak Sprak" und "Koppstoff" -, dieses Politische fehlt hier. Es geht dem Autor mehr um die Bes�nftigung eines Phantomschmerzes, mit dem er aufgewachsen ist:
"Ich denke, die ganze Kindheit ist �berschattet von diesem Vertreibungsgeschehen, das vor meiner Zeit passiert ist, und ich denke, dass man - in meiner Generation zumindest - in einer Art traumatischer Glocke gelebt hat, bis man dieses Glas durchsto�en konnte. Ich denke, dass ein langer Schatten gefallen ist von diesen Ereignissen - und dass viele, wie ich, nicht richtig heimisch geworden sind in der neuen Umgebung. Nur wollte ich das in diesem Buch ausklammern. Es war nicht mein Anliegen, von mir zu erz�hlen, sondern m�glichst objektiv darzustellen: Wie haben die Leute dort eigentlich gelebt?"
Das Wagnis, das Klaus-J�rgen Liedtke mit diesem Buch eingeht, ist nicht eigentlich politischer Natur. Es handelt sich um folgendes: Alle Namen, die darin auftauchen - und zwar in Dostojewskischer F�lle auftauchen -, sind Klarnamen, es gibt kein einziges Pseudonym. Dazu geh�rt Mut heute, wo die Rechtssicherheit von Autoren, die lebende Personen darstellen, wiederholt beschnitten wurde. Doch Liedtke betont zu Recht, dass es Verrat w�re an einem Projekt wie diesem, wiche man ausgerechnet hier in Fiktionen aus:
"Mir ist seit zehn Jahren immer klar gewesen, dass das sehr gewagt ist. Es reicht ja schon, wenn ein Satz in dem Buch vorkommt, der zur Anklage gen�gen w�rde. Ich bin dem Verlag sehr dankbar, dass er diesen Weg mit mir geht und das auf sich nimmt. Erkennen w�rden diese Leute sich ja ohnehin, wenn man die Namen ver�ndern w�rde. Ich m�sste es schon verlegen in eine andere Gegend. Aber das w�rde dem ja nicht gerecht, es muss schon dort spielen, in Ostpreu�en. Aber gewagt ist es allemal, und eigentlich erwarte ich jeden Tag eine Anklage."
Was ist geblieben von Kermuschienen? 1947 wurden Ukrainer in die verlassenen H�user umgesiedelt, auch sie waren Vertriebene. Doch da das Dorf so abgelegen war und weder elektrischen Strom noch eine Verkehrsanbindung hatte, gaben es die polnischen Beh�rden Mitte der siebziger Jahre auf.
"Vor Ort ist im Grunde nur noch dieser H�gel, diese Kuppe - es war ja das h�chstgelegene Dorf in der ganzen Umgebung. Aber es sind nur noch Fundamente vorhanden, diese gro�en Findlinge, diese Bruchsteine. Man sieht noch in etwa die Abmessungen der H�fe, und das auch nur im Winter und Fr�hjahr und Herbst, sonst ist alles �berwachsen. Man sieht noch ein paar Gr�ber auf dem Friedhof oberhalb des Dorfes, aber von den M�hlen zum Beispiel gar nichts mehr. Man sieht auch nichts mehr von den Waldh�usern meines Gro�vaters, vom Bruch, das auch mal Heuwiesen hatte. Das ist alles verlandet oder verw�ssert und �berwachsen. Von dieser Kultur ist nichts geblieben."

Buchbesprechung im DEUTSCHLANDFUNK - B�chermarkt