Im Sklavenregister Frankfurter Rundschau

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Im Sklavenregister

Camilla Jensen entdeckt ungeahnte Wurzeln ihrer Familie und damit ein dunkles Kapitel der dänischen Geschichte

VON HANNES GAMILLSCHEG
Fünf Jahre lang hat Camilla Marlene Jensen in Südafrika gelebt und sich dort, wie sie sagt, sofort heimisch gefühlt. "Später begann ich nachzudenken: warum hat mich Afrika schon immer interessiert?" Bekannte hatten sie manchmal gefragt, ob sie nicht "afrikanisches Blut in den Adern" habe, obwohl sie hellhäutig ist wie die meisten Dänen. Das krause Haar, obwohl blond, und die hohen Wangenknochen geben ihr etwas Exotisches. "Quatsch", hatte sie stets erwidert: alle aus ihrer Familie waren hell.

Alle? Da gab es den Großvater, von dem sie nichts wusste. Der war verschwunden, kaum dass er eine Tochter gezeugt hatte, Camillas Mutter. Die war dann vom späteren Mann ihrer Mutter adoptiert worden. Camillas Neugier war geweckt. Sie fand die Adoptivpapiere. Ihr Großvater hieß Ernst Jensen. Dänischer kann man kaum heißen. Sie fand ein Bild. So sah er auch aus. Also doch nichts mit exotischer Herkunft? Um das Kapitel abzuschließen, rief Camilla noch bei der Frau an, die Jensen später geheiratet hatte: ob sie etwas wüsste von dessen Vorfahren. Da erinnerte sich die alte Dame: "Sein Großvater kam doch aus Afrika." Anderntags rief sie zurück: "Nicht aus Afrika. Aus Westindien." Da verstand die 32-jährige Dänin, dass sie von den Sklaven abstammt, die an Afrikas Goldküste, dem heutigen Ghana, geraubt und in die Karibik verfrachtet wurden, um in den dänischen Kolonien auf den Westindischen Inseln in den Zuckerplantagen zu arbeiten und zu sterben.

In den dänischen Archiven bestätigte sich ihre Vermutung. Des Großvaters Großvater hieß nicht Jensen und war nicht weiß. Er hieß Charles Pickering und war Sohn der als Sklavin geborenen Ann-Jane, die nach Aufhebung der Sklaverei als Dienstmädchen bei ihren ehemaligen Eigentümern auf St.Croix blieb. Als Siebenjähriger war Charles nach dem Tod seiner Mutter von der Familie Raphael, der diese gedient hatte, 1865 nach Dänemark geschickt worden. In den Sklavenregistern fand Camilla Ann-Janes Mutter Joan, die sieben Kinder hatte, und Joans Mutter Violet. Sie war in Afrika gefangen und auf jene Inseln verschifft worden, die heute Virgin Islands heißen. Über sieben Generationen kann Camilla Marlene Jensen ihren Stammbaum bis an Afrikas Küste rückverfolgen. "Ich bin eine afro-karibische Dänin", stellt sie fest, und obwohl sie die Suche nach ihren Wurzeln erst vor drei Jahren begann, ist ihr heute, "als hätte ich das immer schon gewusst."

Dänische Meisterbürokraten

Dass die Dänen auch damals schon Meister-Bürokraten waren, erleichtert heute den Nachfahren der einstigen Sklaven die Suche nach ihren Ahnen. In keinem anderen Land gibt es Sklaven-Register, die den dänischen vergleichbar sind, nicht weil man sich dort mehr um die Schicksale der Leibeigenen kümmerte, sondern weil man die Angaben brauchte für die Steuererhebung. Sklaven waren Eigentum, der Besitz von Sklaven war mit einer Kopfsteuer belegt; Arbeitsfähige kosteten mehr als Kinder oder Alte. Um Steuerschwindel zu verhindern, mussten die Register vollständig sein, mit Namen und Daten: wer wen "besaß", wer starb, wer hinzugekauft wurde, mit welchem Schiff er kam.

Als der Handel mit Sklaven Anfang des 19.Jahrhunderts verboten wurde, schloss Kopenhagen sein Konsulat an der Goldküste. Die dortigen Archive wurden verbrannt. Doch auf den Westindischen Inseln, wo die Sklaverei erst 1848 abgeschafft wurde, als ein Aufstand der Unterdrückten drohte, blieben die Unterlagen erhalten. 1917 wurden sie nach Dänemark "heimgebracht", wie es dort heißt, oder "nach Dänemark gestohlen", wie man auf St.Croix sagt. So stehen im Reichsarchiv 2,5 Kilometer westindischer Archivalien und könnten Auskunft geben über ein verdrängtes Kapitel der dänischen Geschichte.

Doch es ist "verblüffend, wie wenig man sich in Dänemark dafür interessiert hat", sagt der Historiker George Tyson von den Virgin Islands, der ein Projekt über die afrikanischen Wurzeln des so genannten Westindien betreut. "Die Plantagen auf den Inseln haben viele Dänen sehr reich gemacht, doch niemand fragt danach, wie dieser Reichtum zustande kam." Für die harte Arbeit in tropischer Sonne wurden 100 000 Afrikaner auf dänischen Sklavengaleeren übers Meer verfrachtet, Zehntausende weitere starben unterwegs. "Doch wir hören nie von ihnen", sagt der Journalist Alex Frank Larsen, der eine Fernsehdokumentation über die Sklavennachfahren drehte. Die Palais, die mit dem Erlös der Zuckerfelder gebaut wurden, schmücken Kopenhagen noch heute. "Doch nirgends eine Gedenktafel, nirgends ein Monument, das an die Sklaven erinnern würde", sagt Larsen. "Als mein Sohn aufs Gymnasium ging, standen in seinem Geschichtsbuch anderthalb Zeilen, dass wir die Westindischen Inseln an die USA verkauft haben. Die Sklavenzeit ist unsichtbar gemacht worden, weil sie nicht ins Bild des guten Dänemark passt."

Jetzt konfrontiert die Suche der Nachkommen nach ihren Wurzeln Dänemark mit seiner Rolle als Sklavenhändlernation. "Diese Zeit können wir nicht einfach verschweigen", sagt Camilla Marlene Jensen, "das war ja nicht ein kurzes Kapitel, das waren mehr als 200 Jahre." Doch kaum einer der 100 000 Geraubten und ihrer Kinder, Enkel und Urenkel ist ins Bewusstsein der Dänen eingetreten. Ein paar Ausnahmen gibt es. Der Bekannteste der Sklavensöhne war Victor Cornelis, dessen Mutter Sara in einer Plantage auf St.Croix arbeitete, als einer bekannten Dänin die Idee kam, einer Ausstellung im Kopenhagener Tivoli über die Kolonien mit ein paar schwarzen Kindern ein besonderes Flair zu geben. Als der siebenjährige Victor vom Spielen heimkam, "stand ein weißer Mann in der Tür und hatte meine Mutter schon überredet", erinnerte er sich später. Schreiend wurde er zum Hafen gebracht, fest gewillt, über Bord zu springen und heim zu schwimmen. Bis er die Haie sah, die dem Schiff folgten. So ergab er sich ins Unvermeidliche. In Kopenhagen verursachten er und seine Weggefährtin, die vierjährige Alberta, ein Verkehrschaos, als sie über den Rathausplatz geführt wurden. "Negerkinder!" Im Tivoli saßen sie im Käfig und spuckten auf die, die sie anstarrten.

Musik als Erbe

Alberta starb an TBC, Victor blieb in Dänemark, kam in eine Pflegefamilie, sah seine Mutter nie wieder, machte eine Lehrerausbildung, heiratete, bekam Kinder. Da hatte sich Victor Cornelis längst mit der erzwungenen Heimat versöhnt. Als er nach dem Verkauf der Inseln auch US-Bürger hätte werden können, wählte er den dänischen Pass und wurde schließlich ein beliebter Leiter der Musikschule in seinem Wohnort Nakskov. Berufswahl als späte Rache? Im Paragraf 16 des dänischen "Sklavenreglements" hatte es geheißen, dass "Tanz, Gesang und Musizieren den Negern bei Peitschenstrafe verboten" war. Sein Talent vererbte er. Einer seiner Enkel, Ben Besiakov, ist heute ein bekannter Jazz-Komponist und Pianist. Doch jahrzehntelang ahnte auch er nichts von seinen Ahnen.

"Es ist wichtig, seine Wurzeln zu kennen", sagt Camilla Marlene Jensen. "Ich will die Leute daran erinnern, dass auch Dänemark seinen Anteil am Sklavenhandel hatte." Nicht, um falsche Schuldgefühle auszulösen: "Schlechtes Gewissen können wir zu nichts gebrauchen." Aber sie wünscht, dass in Kopenhagen ein Zentrum für "unser tropisches Kulturerbe" errichtet wird, "damit auch dieser Teil unserer Geschichte im Bewusstsein verankert wird. Ich fühle, dass ich meinen Vorvätern ihre Identität zurückgeben muss", sagt die junge Frau.

Für Camilla haben die Vorfahren Gestalt angenommen, erst beim Schmökern in den Archiven, dann bei Reisen in die Karibik. Sie zeichnete das Leben ihres Ur-Urgroßvaters Charles Pickering nach, der schon als 16-Jähriger als Schiffsjunge aufs Meer ging und nur 48 war, als er in einer Kopenhagener Armenklinik starb. Sie fand das Haus auf St.Croix, in dem Ann-Jane, ihre Ur-Ur-Urgroßmutter, Dienstbotin war, und die verfallene Sklavenhütte, in der sie wohl wohnte. Sie fand gute und schlechte Leumunde über Dr.Raphael, den dänischen Arzt, bei dem Ann-Jane diente. Kein großer Heilkundler war er wohl, aber ein großer Säufer, wie die Rum-Rechnungen belegen, die seine Auftraggeber von seinen Honoraren abzogen. Und vielleicht war er, wie dies damals zwischen Hausherren und Mägden nicht unüblich war, der Vater von Charles und damit Ur-Ur-Urgroßvater von Camilla Marlene Jensen.

      Dänisch-Westindien
     
           Die Westindischen Inseln verdanken ihren Namen Columbus, der bei seiner Entdeckungsreise glaubte, nach Indien gekommen zu sein. Die drei Inseln St.Thomas, St.John und St.Croix wurden zwischen 1666 und 1733 vom dänischen Königshaus erworben. Durch den Transport von geraubter Arbeitskraft aus Afrika für die Zuckerplantagen wurde Dänemark zur siebtgrößten Sklavenhändlernation. Erst 1848, Jahrzehnte später als auf den benachbarten britischen Kolonien, wurde die Sklaverei abgeschafft. 1917 verkaufte Dänemark die drei Inseln für 25 Millionen Dollar an die USA. gam