Die verlorene Heimat
Von 1945 bis 1950 wurden �ber drei Millionen Deutsche aus der
Tschechoslowakei deportiert, ihre H�fe, D�rfer und St�dte dem Erdboden
gleichgemacht. Beim "Todesmarsch von Br�nn" wurden im Mai 1945 tausende
Fl�chtlinge ermordet
Von Guido Knopp
Die "wilde Vertreibung" erfasste in den ersten Wochen nach der
Kapitulation das ganze Sudetenland. Die Deutschen mussten sich an
Sammelstellen zur "�berpr�fung" einfinden, wie man die
Leibesvisitationen nannten. Danach wurden s�mtliche Wertsachen
konfisziert. War der Marschbefehl erfolgt, wurden die Deutschen in
langen Kolonnen in Richtung der Grenzregionen zu Sachsen oder Bayern
getrieben: Kinder und Greise, M�nner und Frauen, Gesunde und
Gebrechliche, ohne R�cksicht auf Alter und Gesundheitszustand.Ein
tragischer H�hepunkt dieser Phase der Vertreibung war der "Todesmarsch
von Br�nn". Im Mai 1945 forderten die Br�nner Revolutionsgardisten die
Abschiebung aller Deutschen aus der Stadt. W�hrend der Br�nner
Nationalausschuss als Vertreter der tschechischen Regierung die
Vertreibung verbot, stie� die Forderung bei den Arbeitern des gr��ten
R�stungswerks auf gro�e Zustimmung. Arbeiter und Revolutionsgardisten
organisierten am 29. Mai im gesamten Stadtgebiet Razzien!
und forderten die Deutschen ultimativ auf, sich am n�chsten Morgen im
Altbr�nner Klostergarten zu sammeln. In langen Reihen fanden sich 20.000
bis 25.000 Menschen auf der Stra�e ein; aus allen Gassen str�mten die
Deutschen zusammen. Dann gaben die Revolutionsgardisten der vorwiegend
aus Frauen, Kindern und Alten bestehenden Menschenmenge den Befehl zum
Abmarsch in Richtung �sterreich. "Die Tschechen auf der Stra�e
applaudierten und bewarfen uns mit irgendwelchen Gegenst�nden",
berichtet Norma Fritz, die als Kind den Marsch miterlebte. "Je gr��er
das Leid wurde, desto mehr H�me habe ich mitbekommen. �Ihr verfluchten
Typen, endlich ist Schluss!' riefen Sie uns auf Tschechisch hinterher."
In der Hitze jenes Maitages 1945 geriet der Marsch zur Tortur, bald
lagen in den Stra�engr�ben die ersten Toten. "Wer nicht mehr
weiterkonnte, wurde mit Gewehrkolben geschlagen", berichtet Norma Fritz.
"Wer auch dann nicht weiterging, ist erschossen worden." �ber 1 700
Menschen seien an jenem T!
ag im Jahr 1945 umgekommen, so ein ehemaliges Mitglied der
"Revolution�ren Garden" gegen�ber dem deutsch-tschechischen
Schriftsteller und Journalisten Ota Filip.Nach drei�ig Kilometern
erreichte die Kolonne schlie�lich Pohorelice. Wer nicht mehr gehen
konnten, wurde hier interniert. R�cksichtslos wurden Familien getrennt,
wenn die Alten nicht mehr konnten, mussten die Jungen alleine weiter. Es
war f�r viele ein Abschied f�r immer. Ohne Verpflegung und unter
katastrophalen hygienischen Bedingungen vegetierten die Inhaftierten
dahin. Ruhr und Typhus brachen aus. Der Leichengeruch, der bald �ber dem
kleinen St�dtchen lag, k�ndete vom massenhaften Sterben. Die
tschechischen Bewohner des Dorfes konnten wenig tun, um die Not der
Deutschen zu lindern. Denn wer Mitleid zeigte, gar helfen wollte, musste
mit der Rache der Revolutionsgarden rechnen. Kapit�n Bedrich Pokorny,
der Leiter der Revolutionsgardisten von Br�nn, erhielt nachtr�glich von
der tschechischen Regierung ein Belobigung !
f�r die "zielbewusste Energie", mit der er seinen Dienst versehen hatte.
Pohorelice war nur eines von vielen provisorischen Internierungslagern
in B�hmen, M�hren und der Slowakei. Misshandlungen, Vergewaltigungen und
Pl�nderungen waren an der Tagesordnung. Immer wieder f�hrten die
Tschechen den deutschen Gefangenen vor Augen, warum sie leiden mussten.
W�chter trieben die Gefangenen immer wieder bis zur Ersch�pfung Treppen
hinauf und hinunter und zwangen sie, alte Parolen zu rufen: "Ein Volk,
ein Reich, ein F�hrer: Adolf Hitler. Sieg heil! Sieg heil!" Dann wurde
ihnen befohlen, aufeinander einzuschlagen. Annie Hetz, die damals auf
der Duppauer Gendarmeriestation arbeitete, wurde gleich nach der Ankunft
der ersten Tschechen eingesperrt. Mit anderen Frauen sa� sie im Keller
der ehemaligen Oberschule im Kloster. "Jede Nacht haben wir M�nner
schreien h�ren", berichtet sie. "Sie mussten immer wieder rufen: �Wir
danken unserem F�hrer!' - dann hat es wieder gekracht." Woher die Schre!
ie kamen, erfuhren sie und ihre Mitgefangenen am n�chsten Tag bei
Aufr�umarbeiten im Nachbarkeller. Dort stand eine Bank, daneben lagen
ein Strick und ein gedrehtes St�ck Kupferkabel. Als die Frauen
freigelassen wurden, sahen sie auch, wer in diesem Keller interniert
worden war: Der ehemalige Ortsgruppenleiter der NSDAP, einige Lehrer von
der "SS-Heimschule" im ehemaligen Kloster und mehrere Gro�bauern aus der
Umgebung - alle tats�chlichen oder vermeintlichen "Nazis" aus Duppau,
deren die Tschechen habhaft werden konnten. "Sie waren kaum mehr zu
erkennen", so Frau Hetz. "Augen und Ohren geschwollen, das Gesicht
aufgedunsen - sie haben einfach furchtbar ausgesehen." Der Direktor der
Oberschule, der zu Zeiten des Dritten Reichs stets mit der schwarzen
Uniform der SS vor seine Sch�ler getreten war, wurde bei lebendigem
Leib eingemauert, berichtet Margarete Haubl. "Der Maurer hat auf dem
Totenbett ausgesagt, das er das unter Zwang machen musste." Auch seine
beiden Lehrerkollegen !
fanden den Tod. Jene, die w�hrend ihrer Inhaftierung unter Pr�geln und
Androhung weiterer Misshandlungen ein Gest�ndnis unterschrieben hatten,
wurde kurze Zeit sp�ter aus ihren Zellen geholt. Sie nahmen Werkzeug in
Empfang, Hacken und Schaufeln mussten geschultert werden, dann
marschierten sie zu den Sportpl�tzen der Oberschule. Die Gefangenen
mussten eine lange Grube ausheben und sich in die Tiefe begeben.
MG-Salven setzten ihrem Leben ein Ende.Maria Stiemer stand in diesen
Tagen Todes�ngste aus. Denn auch ihr Mann, der in der Nazizeit als
Gemeindesekret�r gearbeitet hatte, geh�rte zu den Gefangenen im Kloster.
Immer und immer wieder h�rte sie die Gewehrsch�sse. "Jedes Mal habe ich
gedacht, dass sie ihn auch schon erschossen h�tten." Eines Abends wurde
auch sie mit ihren Kindern inhaftiert. "Abends um halb neun kamen sie.
Wir mussten mitkommen und wurden in einen Keller gesperrt", schildert
Frau Stiemer mit tr�nenerstickter Stimme. "Einer der Tschechen sagte:
�Ihr Mann ist g!
eflohen. Finden wir ihn innerhalb der n�chsten zehn Tage, tot oder
lebendig, dann kommen Sie raus. Wenn nicht, werden Sie mit Ihren Kindern
erschossen.'" Auch das f�nfte Kind von Frau Stiemer, das zu dieser Zeit
bei den Gro�eltern war, wurde abgeholt. Auf das Angebot der Gro�eltern,
sich anstelle der Kinder erschie�en zu lassen, gingen die Gardisten
nicht ein. Der "Faschist" musste her, und das m�glichst schnell. Nach
drei Tagen stellte sich Maria Stiemers Mann schlie�lich freiwillig. "Er
konnte sich gerade noch von uns verabschieden. Wir weinten, und er sagte
zu den Kindern: �Seid brav und folgt Eurer Mutti.'" Noch am gleichen
Abend h�rte Maria Stiemer wieder Sch�sse. "Am n�chsten Tag kam ein
Tscheche und sagte: ��brigens, das war gestern Ihr Mann.'" Wenige Tage
sp�ter musste Frau Stiemer mit ihren f�nf Kindern das Land verlassen.
Morgens um f�nf Uhr weckten Milizion�re die Familie; nach einem Tag in
einem Lager wurde sie mit einigen Bauern aus der Duppauer Gegend zur
Grenze !
geschickt. Mitnehmen konnte sie nichts - nur das, was sie und die Kinder
auf dem Leib trugen. Bei Oberwiesenthal betraten Maria Stiemer und ihre
f�nf Kinder deutschen Boden, ohne Nahrung, ohne ausreichende Kleidung,
ohne Ziel. Das ZDF sendet den f�nften und letzten Teil der Serie am 18.
Dezember um 20.15 Uhr: "Die verlorene Heimat". Das Buch zur Serie, dem
unser Text entnommen ist, erscheint im Econ Verlag und hei�t "Die gro�e
Flucht - Das Schicksal der Vertriebenen" (48,90 Mark / 25 Euro, 416
Seiten mit zahlreichen Fotos).
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