Ein Forsthaus in Masuren erinnert an Ernst Wichert

Schweigen in den Wäldern und bei Tisch

Hinein in die gute Stube: Ein Forsthaus in Masuren erinnert an den Schriftsteller Ernst Wiechert / Von Eberhard Rathgeb / FAZ, 22.10.2001

Der Schriftsteller Ernst Wiechert kommt aus dem über weite Strecken wirklich himmlischen und doch dauernd himmlisch völlig verklärten Masuren. Um 1900 war es im Süden Ostpreußens sehr einsam, der Landstrich war sehr arm und blieb es bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Seitdem aber hat sich einiges geändert. Die polnische Bevölkerung ist zwar weiterhin arm und wohnt in oft von modernen, einfachen Betonbauten völlig verhunzten Städtchen, die einen einnehmenden älteren Kern haben. Immer mehr deutsche Rentner kurven in bunten Plastikfreizeitklamotten auf Treckingrädern, die man in Masuren in entsprechend hoch gerüsteten Hotels mieten kann, tagaus und tagein um die Seen. Der Heimattourismus soll der Gesundheit förderlich sein. Es finden sich in Masuren glücklicherweise über tausend Seen, so daß sich die fremdländischen Erscheinungen ins Weite verlaufen können. Auch Polen aus Warschau machen in dieser Gegend gerne Urlaub und schlagen an den Seen ihre Zelte auf.

Hier nun mittendrin kam ein deutscher Schriftsteller zur Welt, der die Stille liebte. Ernst Wiechert wurde in dem Forsthaus Kleinort bei Peitschendorf im Kreis Sensburg am 18. Mai 1887 geboren und sah sofort unberührte Natur, wohin das Auge die unschuldige Seele trug. Von seiner Kindheit und Jugend vor allem im umliegenden Grünen und Gedeihen er zählt er wehmütig und schwärmerisch in seinen Erinnerungen "Wälder und Menschen". Das Buch erschien 1936 und gehört neben seinem autobiographischen Bericht aus dem Konzentrationslager Buchenwald ("Der Totenwald", erschienen 1945), wo er 1938 für einige Monate inhaftiert war, zu den Büchern, die man von Ernst Wiechert vielleicht, vielleicht noch lesen wird, wenn schon all seine anderen Bücher - und er hat einige Romane, Novellen, Erzählungen und berühmte Reden geschrieben - längst in Vergessenheit geraten sind.

Wer interessiert sich heute noch ernsthaft für Wiechert? Die Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft hat rund einhundertfünfzig Mitglieder in neun Ländern, darunter Japan. Doch es sind nicht nur diese verstreuten Mitglieder, die in Bussen zum abgelegenen und völlig renovierten Forsthaus des bedachtsamen, aber kapriziösen Meisters der Tannen, Wiesen und Seen pilgern. Zahlreiche Heimattouristen sind darunter,- ältere Jahrgänge vor allem, die in den dreißiger und vierziger Jahren Wiecherts Bücher kennenlernten, unter anderen den erfolgreichen Roman "Das einfache Leben" aus dem Jahr 1939. Bis 1945 stand der Eremit aus Masuren, der sich für den Theologen Bonhoeffer eingesetzt hatte, unter der Aufsicht der Gestapo.

Die Bekennende Kirche Ostpreußens hatte sich Mitte der zwanziger Jahre gebildet. Ein anderer, ein richtiger Dichter gehörte zu diesem Kreis: Johannes Bobrowski, 1917 im ostpreußischen Tilsit geboren. Der Abiturient Bobrowski löste seine Bindung zur Bekennenden Kirche, weil er kein Märtyrer werden, sondern ein normales Leben führen wollte. Seit 1928 wohnte er mit seinen Eltern in Königsberg, wo Wiechert von 1919 bis 1929 als Studienrat für die Bildung der Jugend geradestand. Bobrowski lernte früh ebenfalls die Wälder kennen und lieben, und zwar die "schwarzen Wälder" Litauens, wie es in seiner "Pruzzischen Elegie" (1952) heißt, wohin er in den Sommerferien zu seiner Großmutter fuhr. In dem Gedicht "Steppe" (1956) hat er in wenigen und besseren Worten gesagt, was auch Wiechert anfangs, als er aus dem Wald in die Stadt ging, bewegt haben mochte: "Dörfer / wie will ich lieben / noch? In der Ferne weiß ich / endlos rinnender Himmel / Glanz. Den Jungen, der sang, / und den Hüter mit hellen / Augen hörte ich reden / an der Straße, ich stand / im Rücken das Dorf." Bobrowski kannte Wiechert, dessen Rede auf die Innerlichkeit, "Von den treuen Begleitern", im Jahr 1937 in Heinrich Ellermanns Zeitschrift "Das Gedicht. Blätter für die Dichtung" erschienen war. Dem Hamburger Verleger Ellermann hatte Bobrowski schon 1936 vergeblich einige Gedichte zur Veröffentlichung geschickt.

Der Schriftsteller Ernst Wiechert hatte zu Lebzeiten enormen Erfolg. Er konnte von seinem Schreiben gut leben. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber gehört heute noch zu seinen Lesern. Die Jahrestagung der Internationalen ErnstWiechert-Gesellschaft im September 2000 begleitete Stoiber mit einem Grußwort, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck gab, "daß die Stimme Ernst Wiecherts uns noch lange begleiten" werde. "Vitalität [schon wieder] und Genauigkeit der Sprache prägen den literarischen Rang des Werkes." Die Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Doch zurück ins Gehölz.

Was geschah im Wald unterhalb der damals noch nicht verbauten Stadt Sensburg?

Das idyllisch, gelegene Forsthaus Kleinort überstand zwar den Weltkrieg, zerfiel aber nach 1945 zusehends. Kein Pole fühlte sich für den deutschen Schriftsteller zuständig keiner kümmerte sich um dessen Elternhaus. Waldarbeiter wohnten hier, bis sich die Forstverwaltung endlich einen Ruck gab und 1996 mit der Renovierung begann. Ein Jahr darauf sah das Geburtshaus sehr schmuck aus. Von dem alten Forstgebäude ist der Grundriß geblieben, der entscheidende Rest ist ganz modernisiert. Heute wohnt wie in alten Zeiten eine Försterfamilie darin. Ein Zimmer dient als Gedenkstube an den Schriftsteller Ernst Wiechert. Dort hängen an den Wänden alte Fotografien, und in einer Ecke steht ein kleines Bücherbord mit alten Ausgaben ausgewählter Werke des früheren Bewohners. In einem Vorraum kann man deutsche Ausgaben einiger seiner Bücher kaufen. Ein Blick aus einem der hinteren Fenster zeigt, daß der unmittelbar an das Haus angrenzende See, den Wiechert in "Wälder und Menschen" beschrieben hat, längst ausgetrocknet ist. Dafür ziehen Wiesen bis zum fernen Waldessaum dahin. Das ganze Wiechert-Ambiente ist weg. Hohe Bäume stehen zwar noch dicht zusammen, doch auch mit großer Mühe hört man hier die Wälder nicht mehr rauschen, die einst die Menschen prägten.

Ein Tonbandgerät in der guten Stube des Schriftstellers läßt sich bei innigem Bedarf anschalten, und dann liest ein Schauspieler mit tannendunkler Stimme aus "Wälder und Menschen" ausgewählte Passagen vor. Gerührt kann man sich in eine der drei Ecken zur Einkehr verkrümeln, wenn man hört, daß der Mensch sich immer nur als Schöpfer verstehe und dabei völlig verlernt habe, sich als ein Geschöpf zu sehen. Betreten schaut man zu Boden, und ein zweiter scheuer Blick aus dem Fenster belehrt den Zuhörer vielleicht darüber, daß im tiefen Wald alle Lebewesen gleich sein könnten. Insbesondere mag sich einem diese Aussicht aufgedrängt haben, als man dort nur wenigen Autos begegnete.

Eine kleine Allee führt von der Straße zum Forsthaus, und wenn man sie wieder hinuntergeht und ein wenig weiterfährt bis zum nächst gelegenen See, dann findet man dort das Grab der Mutter Ernst Wiecherts, die sich 1912, da war der Sohn fünfundzwanzig Jahre alt und hatte sein Staatsexamen gemacht, das Leben nahm. Sie war schwermütig und mit einem Ehemann geplagt, der in mächtigen Zügen regelmäßig trank, weil er es daheim nicht aushielt. Der Sohn nahm den Vater in seinen nebligen Erinnerungen in Schutz. Dort heißt es nur, daß die Eltern ständig schwiegen, morgens, mittags, abends. Ernst Wiechert lernte das Schweigen lieben, nicht hassen. Auch die Figuren in seinen späteren Geschichten werden immer wieder und sehr penetrant schweigen statt endlich einmal zu sagen, was ihnen auf der Seele liegt.

Unter dem elterlichen Schweigen bildet Wiechert ein Muster seiner Wahrnehmung heraus. Er teilt die Welt seitdem ein in die lärmende Stadt und in den stillen Wald. In seinen Kindheitstagen, als er von Städten noch keine Ahnung hat, besteht dieser Gegensatz als Ortswechsel zwischen der Kneipe, in der nicht nur der Vater gerne verschwindet, und dem Forsthaus im Wald, wo Tiere und Menschen um die Wette still sind.

Neben der Mutter liegt auch Ernst Wiecherts erste Frau Meta Wiechert, geborene Mittelstädt, am wunderschönen See begraben. Sie hatte sich ebenfalls selbst das Leben genommen, und zwar 1929. Der Schriftsteller hatte sie wegen einer anderen Frau sitzengelassen und durfte sich deswegen in seiner tugendstrengen Heimat, die ihre Töchter noch ehrte, nicht blicken lassen. Er selbst starb 1950 in der Schweiz. Zum fünfzigsten Todestag Wiecherts gab das Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen eine Briefmarke mit dem Porträt des Schriftstellers heraus, der vor allem eines beherrschte: unter den Baumwipfeln einer höheren Heilsordnung vom "Leben" zu erzählen.

Am Abend kehren die deutschen Radler müde nach Hause zurück, zum Beispiel in das Hotel Hubertus, das eingerichtet und ausstaffiert ist wie alle einfachen Hotels in deutschen Kleinstädten. Auch hier schweigt man gerne beim -gemeinsamen Essen. Bei Tisch verdaut jeder still für sich die Eindrücke des Tages, der nun auch wieder rum ist.